1530 vom Zürcher Verleger Christoph Froschauer in Auftrag gegebene Scheibe / Schweizerisches Landesmuseum

Wertvolle Stücke aus der Beute (Diebold Schilling)

Französische Soldzahlungen in Luzern
Die Siege in den Burgunderkriegen hatten bekanntlich für den achtörtigen Staatenbund weitreichende Folgen:
— Die reiche Siegesbeute vor allem von Grandson sorgte unter den Teilnehmern für einen erbitterten Streit um eine gerechte Verteilung. Schon bald sollte sie zu einem Symbol für die Gefahr der Verführung durch Luxus und Reichtum, für Sittenverderbnis und und Korruption werden.
— Eidgenössische Söldner entwickelten sich “definitiv zum Exportschlager” (André Holenstein). Das Söldner- und Pensionenwesen prägte die kommenden Jahrhunderte bis 1859 (!!), hatte in den verschiedenen Orten gravierende Auswirkungen auf das soziale Leben und war eine weitere Quelle für Korruption in grossem Masstab. Es kursieren Zahlen bis zu 2 Millionen eidgenössische Söldner in fremdem Diensten!
— Der Streitpunkt der Neuaufnahme der Städteorte Solothurn und Freiburg entfachte nach dem Alten Zürichkrieg die nächste grosse Krise zwischen den Stadt- und Landorten, die nach einem mehrjährigen Streit erst im Dezember 1481 mit dem Stanser Verkommnis dank der Vermittlung durch Niklaus von Flüe sozusagen “in letzter Sekunde” beigelegt werden konnte.
Es ist nun spannend zu sehen, wie der Tell-Mythos zwar bei Land- und Stadtorten ein entscheidener Eckstein für das eidgenössische Selbstverständnis bleibt, seine Rolle aber durchaus verschieden interpretiert wird. Das macht ein Blick in die ersten Chroniken, Tell-Spiele und Lieder deutlich:
- Im Weissen Buch von Sarnen erscheint der Tell-Mythos als Teil der Legitimation einer politisch autonomen Existenz der Innerschweiz angesichts der habsburgischen Vorwürfe und Ansprüche. Dem Vorwurf der Rebellion gegen die von Gott eingesetzte natürliche Ordnung setzt man das Bild der “frummen, edlen Puuren” entgegen, die sich angesichts einer ungerechten Herrschaft das Recht ausgenommen haben, selber an die Stelle der Herren zu treten, — symbolisiert im “Thall”.

Etterlin Rütlischwur
- Diese Rechtfertigung wird in der ersten eigentlichen Chronik, der “Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft, jr harkommen und sust seltzam strittenn und geschichten” des Luzerners Petermann Etterlin 1505/07 weiter vertieft und auf die gesamte Eidgenossenschaft der acht alten Orte ausgeweitet. Inzwischen haben sich die Vorwürfe der “Gottlosigkeit der Eidgenossenschaft” durch Kaiser Maximilian I. ja sogar auf die Reichsebene verlagert (siehe Tell 3).
- Im Urner Tellenspiel “Ein hüpsch Spyl gehalten zu Ury in der Eydgnoschafft, von dem frommen und ersten Eydgnossen, Wilhelm Thell genannt” 1512 tauchen vor der szenischen Darstellung Herolde auf, welche die Urner und Unterwaldner als Nachfahren der Römer, und die Schwyzer als eingewanderte Schweden präsentieren. Sie sind mit dem Grafen Rudolf von Habsburg eigentlich in bestem Einvernehmen. Erst als er Kaiser wird und sich von Vögten vertreten lässt, beginnen die Probleme! Der Hitzkopf Tell faustet angesichts der Klagen von Stauffacher und Erni von Melchtal: “Dann hette yedermann minen sinn / So schlug ich mit der funst darinn!”. Er hat allerdings gar nichts gegen die Anerkennung Rudolfs als seinen Herrn, ihn nervt nur der Hut auf der Stange als sinnlose Schikane des Vogts : “Was eer soll ich anthuon disem huot / Der mir weder guots noch boess thuot?/ Minem herren wolt ich gern eer anthuon / So er hie wer in eigner person”.
- Erste kritische Untertöne gegen unseren Helden tauchen in einer weiteren berühmten Chronik, im “Chronicon Helveticum” von Ägidius Tschudi auf. Zwar tastet er dessen Rolle als Widerstandshelden nicht an, aber bei ihm als Angehörigen einer neuen Oberschicht, die sich aufgrund der Einkommen durch das Söldner- und Pensionenwesen gebildet hat, dürfen Tell und seine Bundesgenossen nicht allzu aufmüpfig auftreten:
“Des schwurend si ein eid zuo gott und den heiligen zesamen […] behulffen ze sin wider ir alte frijheit ze erobern und die tirannischen landtvögt und muotwillige herrschaft ze vertrijben […] (soweit, so gut!) doch das nichtzdestminder jetlich land dem heiligen römischen rich gebürliche gehorsame tuon, ouch jeder mentsch sin sonderbare pflicht wes er gebunden, es sig gotzhüsern herrn edlen und unedlen und mengklich dem andern inländischen und ußländischen, wie von alter har gebürende pflicht und dienst leisten”.
Dazu Inken Schmidt in ihrer ausgezeichneten Monographe “Wilhelm Tell in der politischen Kultur der Alten Eidgenossenschaft in der frühen Neuzeit”, auf die ich mich in dieser Folge stütze:
“An diesem Punkt legt Tschudi den ersten Bundesgenossen ein Selbstverständnis in den Mund, welches dasjenige der örtischen Oberschichten des 16. Jahrhunderts widerspiegelte, die sich immer stärker abschlossen und einen adelsähnlichen Lebensstil pflegten. Dies beinhaltete auch die Leitung des »gemeinen Volkes« durch umsichtige Herren, die sowohl das gemeine Wohl als auch die Vermeidung eines chaotischen Aufstandes der Bauern im Auge haben. Die gesellschaftliche Ordnung wird gerade nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr konsolidiert, es gelte allein, die Fremdherrschaft zu beseitigen. Tschudi nimmt der Befreiungsgeschichte durch diese Darstellung jeden Interpretationsspielraum, der einer legitimen Auflehnung gegen die »natürlichen« Herren Vorschub leisten könnte; vielmehr beansprucht er die patriarchale Machtposition eines Hausvaters »Landesvater«, also das obrigkeitliche Patriziat (sic!).
… Wilhelm Tell gehörte nach Tschudi dem Geheimbund an; doch obwohl auch er wohl die Ermahnung zu Zurückhaltung kannte, schien er geradezu provokativ dem Hut die Referenz zu verweigern, welches auch unter den Eidgenossen zu Unmut führte. … Wilhelm Tell wird in Tschudis Beschreibung der Befreiungstradition also keineswegs als der glorreiche Held dargestellt; vielmehr scheint die Geschichte Tells für ihn die Gefahren zu verkörpern, die von unüberlegten und mutwilligen Aktionen Einzelner ausgehen. … Tell erscheint zwar als exponiertes Opfer des vögtlichen Mutwillens, aber im Interesse des gemeinsamen Planes hätte es ihm besser angestanden — und vielleicht mehr zu seinem Heldenruhm beigetragen —, alle Repressalien zu ertragen. … In diesem Sinne kann Tells Tyrannenmord auch nur als bewußte Gefährdung der politischen Verschwörung gesehen werden, die dem Starrsinn eines rein eigennützig agierenden Urners zuzurechnen ist.”
Tell als eigennütziger und starrsinniger Hitzkopf, — das ist neu 🙂
- Ganz im Gegensatz dazu steht die zweitälteste Quelle zum Tell: das “Lied der Entstehung der Eidgenossenschaft” oder “Bundeslied”, das kurz nach der Schlacht von Nancy auftaucht. In ihm wird Tell zur Identifikationsfigur der Söldner, die an den Burgunderkriegen beteiligt waren. In ihrem neuen Selbstbewusstsein und ihrer Interpretation der Siege als Gottesurteil erkennen sie Tell als Gottes Werkzeug:
“Darmit macht sich ein grosser stoß, | da von entsprang der erst Eydgnoß, | gott wolt die landvoegt straaffen. ..
Gott woell sy lang in eeren han, | als er bißhaer ouch hat gethon, | so wend wirs gott lon walten.”
Wir sehen: Tell ist und bleibt anfangs des 16. Jhdts zwar ein einheitsstiftender Mythos, aber es zeigen sich schon erste divergierende Ansichten seiner Bedeutung.
Im 16. und 17. Jhdt. wird die Eidgenossenschaft erneut zutiefst erschüttert: einerseits durch die religiöse Spaltung nach der Reformation in altgläubige und neugläubige Orte, andererseits durch die sozialen Spannungen, die sich durch die Herausbildung einer neuen obrigkeitlichen Herrschaftsschicht in den Land- und den Stadtorten mit ihren Untertanengebieten aufbauen.
Auf welche Seite wird sich unser guter Tell wohl schlagen?
Dazu mehr in unserer nächsten Folge!
P.S. Hier noch ein spannender Exkurs zum Thema “Freiheit heute” im aktuellen Wochenkommentar von Matthias Zehnder.
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