In seinem Buch “Die tin­ten­blauen Eidgenossen. Über die lit­er­arische und poli­tis­che Schweiz” äussert sich Peter von Matt in der Ein­leitung so über den Tell-Mythos:
Die Schweiz war auf ihre hero­is­chen Leg­en­den schon früh aus einem sehr ein­fachen Grund angewiesen. Seit der Ref­or­ma­tion und der Entste­hung kap­i­tal­is­tis­ch­er Wirtschafts­for­men in den Städten dro­hte sich der kleine repub­likanis­che Staat eigen­händig zu zer­stören. Ent­ge­gen der his­torischen Selb­stverk­lärung als Mod­ell­beispiel friedlichen Zusam­men­lebens zwis­chen ver­schiede­nen Sprachen und Kon­fes­sio­nen herrschte in der Schweiz stets ein laten­ter, von Zeit zu Zeit blutig akuter Bürg­erkrieg. Kein Jahrhun­dert, in dem die Schweiz­er nicht mit blanken Waf­fen aufeinan­der los­ge­gan­gen wären. (…)
Als über­greifende Gemein­samkeit von höch­stem Gefühlswert dien­ten … die alten Heldengeschicht­en. Ihnen kam die Funk­tion ein­er parareligiösen Mytholo­gie zu, auf welche die zer­strit­te­nen Brüder jed­erzeit zurück­greifen kon­nten, um die Risse im Sys­tem ihrer Brüder­lichkeit zu flick­en. Wenn die Inner­schweiz­er im Namen der Mut­ter­gottes von Ein­siedeln auf die Zürcher, die Zürcher im Namen Zwinglis auf die Inner­schweiz­er ein­droschen, blutig und aus­dauernd, kon­nten sie sich jew­eils doch wieder zusam­men­find­en in der gemein­samen Beru­fung auf Tell und Winkel­ried. Insofern waren die hero­is­chen Leg­en­den ein realpoli­tis­ch­er Fak­tor von exis­ten­tieller Bedeu­tung. Sie bilde­ten ein sekundäres Glaubenssys­tem, und zwar voll­ständig, mit poli­tis­chen Heili­gen, Mär­tyr­ern, Tätern und Friedenss­tiftern, das noch im mörderischsten Kampf um den richti­gen Lieben Gott die Möglichkeit der Ver­söh­nung offenhielt.

Hat Peter von Matt, der pro­funde Ken­ner eid­genös­sis­ch­er Befind­lichkeit, mit dieser Deu­tung der Tell-Geschichte recht? Die geneigten birsfaelder.li-Leserinnen und Leser sind her­zlich ein­ge­laden, wieder ein­mal einen Blick in die anfangs 2020 ent­standene Serie zu unserem Nation­al­helden zu wer­fen und sich ein eigenes Urteil zu bilden.

P.S. Hier ein Auszug aus seinem Kom­men­tar zum Tell-Bild von Johann Hein­rich Füssli:
In der Tat ist Füsslis Bild eines der mächtig­sten, wenn nicht das mächtig­ste malerische Zeug­nis des deutschen und schweiz­erischen Sturm und Drang. Auch wenn es der Zürcher Füssli in Zürich nicht lange aushielt. Sein tumul­tu­ar­isches Genie sprengte alle Nor­men der from­men, sparsamen Stadt. Er lebte und arbeit­ete in Lon­don. Dort ent­stand um 1785 das Gemälde mit dem Tell­sprung. Der bay­erische Kupfer­stech­er Carl Gut­ten­berg kaufte es dem Maler ab, reiste damit nach Paris und fer­tigte hier den berühmten Stich an. Er erschien 1788, ein Jahr vor dem Bastille-Sturm, als demon­stra­tives Sig­nal der sich zusam­men­brauen­den Rev­o­lu­tion. Im Schiff des Land­vogts sieht man eine Rokoko-Dame in Ohn­macht fall­en. Das immense Män­ner­bein, in dem die welth­is­torische Energie der Stunde zum Ereig­nis wird, stösst das Ancien Régime ins Chaos zurück, während sein Besitzer im Licht emporschnellt. (…)
Gut­ten­berg hat seinem Stich an der unteren Längs­seite, wo bei solchen Pro­duk­ten son­st die Wid­mung an eine adelige Per­sön­lichkeit zu ste­hen pflegte, einen deutschen und franzö­sis­chen Text beige­fügt mit der Tell-Geschichte. Zum Sprung heisst es:
“Alors TELL saisit un moment favor­able et trans­porté par le Génie de la Lib­erté, il s’élance de la Bar­que, que, du même mou­ve­ment, il la repousse, dans les flots”. 
Die deutsche Ver­sion lautet:
“Schnell und kühn, ent­flam­met vom Geiste der Frei­heit raffte TELL Pfeil und Bogen an sich, und sprang an Strand: das Schiff wank­te vom Stosse des Trittes zurück.”
Im franzö­sis­chen Aus­druck “Génie de la Lib­erté” verbindet der Deutsche in Paris das magis­che Wort, das bei ihm zu Hause die Epoche regiert, “Genie”, mit der höch­sten poli­tis­chen Parole, “Frei­heit”. Es waren die Jahre, als Schillers “Räu­ber” die deutschen Büh­nen erschüt­terten. Ihr Mot­to “in Tiran­nos” kön­nte auch über Füsslis Bild und Gut­ten­bergs Kupfer stehen.

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Mattiello am Mittwoch 22/52
Heiner Koechlin

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