Leon­hard Ragaz schrieb seinen “Kampf um Jesus Chris­tus” als Rep­lik auf die Auf­fas­sung jen­er zeit­genös­sis­chen The­olo­gen, die in der Gestalt Jesu nur noch einen Mythos sahen, — ähn­lich wie Mithra oder Osiris. Aber er zeigte für diese Hal­tung dur­chaus Ver­ständ­nis, weil er sie als Reak­tion auf den weit ver­bre­it­eten the­ol­o­gis­chen “His­toris­mus” erkan­nte:
Wir sind so tief in die Ver­gan­gen­heit­sre­li­gion hinein ger­at­en, weil wir religiös zu schwach waren, um eine lebendi­ge Gegen­wart­sre­li­gion zu haben. Wir mussten in der Geschichte Kraft suchen, weil es uns an gegen­wär­tigem Gotte­ser­leben fehlt. (…). Wir ver­fie­len dem His­toris­mus, d.h. dem Kul­tus der Geschichte, der Autorität des Ver­gan­genem als solchen.
So beka­men wir auch ein his­torisches Chris­ten­tum und einen his­torischen Chris­tus. Alle christliche Wahrheit wurde aus der geschichtlichen Erschei­n­ung Jesu abgeleit­et. (…) Dieser “his­torische” Jesus trat an die Stelle des Chris­tus der christlichen Geschichte. Auch das war zunächst ein Fortschritt. Jesus wurde dadurch lebendi­ger, men­schlich­er und den Men­schen näher gerückt. Wir alle haben davon viel gewon­nen. Das muss kräftig fest­ge­hal­ten wer­den, auch wenn wir nun von dieser ganzen Art wieder etwas abkom­men soll­ten. (…)

In diesen Zusam­men­hang gehört auch die Reak­tion gegen den His­toris­mus des Chris­ten­tums und im beson­deren den “his­torischen Chris­tus”. Kalthoff und Drews (als Vertreter des Chris­tus-Mythos) sprechen es bei­de offen aus und lassen es auch son­st deut­lich erken­nen, dass dies das inner­ste Motiv ihres Auftretens sei. Und ich meine, dass dieses Motiv sein gutes Recht habe. Wir kön­nen nicht bloss vom His­torischen leben, am wenig­sten in der Reli­gion. (…)
Aus diesem Gefühl her­aus sind Kalthoff und Drews nun so weit gegan­gen, Jesus aus der Geschichte zu stre­ichen oder doch seine zen­trale Bedeu­tung für das ver­gan­gene und gegen­wär­tige religiöse Leben zu leug­nen. Sie wollen Gegen­wart­sre­li­gion, einen Chris­tus aus unser­er Zeit und für sie. Sie sind eine Reak­tion auf den “his­torischen Jesus” der mod­er­nen The­olo­gie. Aber so sehr sie mit ihrem Motiv recht haben, so sehr irren sie in der Form, worin sie ihm Aus­druck geben.

Es ist ein ander­er Weg, den wir zu gehen haben. Aber welchen?

Ragaz fordert, dass wir uns von der Vorstel­lung lösen müssen, die Gestalt Jesu “als gute Chris­ten” erkan­nt und ver­standen zu haben: Ich meine, die Erken­nt­nis Jesu ist noch nicht abgeschlossen, vielmehr wis­sen ger­ade die jet­zi­gen Stürme in uns die Ahnung erweck­en, dass wir in eine neue Phase des Ver­ständ­niss­es Jesu einge­treten sind, dass wir eine Stufe höher hin­auf müssen zu ihm, dass auch von diesem Gesicht­spunkt aus betra­chtet eine Aufer­ste­hung Jesu sich vol­lzieht.

Eines ste­ht für ihn fest: Die ganze christliche Geschichte, auch Paulus, Johannes, die Syn­op­tik­er (d.h. die Ver­fass­er der ersten drei Evan­gelien), Jesus selb­st, d.h. sein Leben, seine Per­son, sein Los, seine Wirkung auf die Jünger, ist nur zu ver­ste­hen, wenn Jesus viel, viel mehr gewe­sen ist, als wir heute anzunehmen geneigt und zu ver­ste­hen fähig sind. (…)
Wir wer­den diesen grösseren Jesus suchen müssen, diesen Jesus, der das unbe­grei­flich hohe Wun­der der christlichen Geschichte und im Grunde der Men­schengeschichte über­haupt, erk­lärt, weil er selb­st ein unbe­grei­flich hohes Wun­der ist, und dabei doch so selb­stver­ständlich, wie alle höch­sten Wun­der Gottes sind, wie Gott selb­st ist. Diesen Jesus müssen wir ent­deck­en, Stück für Stück, Klarheit für Klarheit, Wun­der für Wun­der. Darum müssen wir aber wis­sen, dass er uns noch nicht ein Fer­tiger, son­dern ein Wer­den­der ist, dass wir um ihn zu rin­gen haben und dass wir ihn immer nur in dem Masse find­en, als wir höher hin­auf­steigen und doch zugle­ich ein­fach­er, kindlich­er wer­den. Jesus Chris­tus ist das grosse Geheim­nis der Geschichte. Wir arbeit­en unter Schmerzen und Freuden daran, es zu enthüllen. Die Geschichte, Gott in der Geschichte, arbeit­et selb­st daran. 

Dieser Pas­sus von Ragaz regt dur­chaus zu Fra­gen an:
— Kann man angesichts der Kreuz­züge, der bru­tal­en Aus­rot­tung der Ket­zer (z.B. der Kathar­er), der Inqui­si­tion, der Reli­gion­skriege, der Ver­nich­tung ganz­er indi­gen­er Völk­er im Zeichen des Kreuzes von einem “unbe­grei­flich hohen Wun­der der christlichen Geschichte” sprechen?
— Wie soll man “kindlich” in unser­er post-mod­er­nen Welt ver­ste­hen?
— Wie kommt Ragaz dazu, angesichts der vie­len geschichtlichen Krisen und Gräuel von einem “Gott in der Geschichte” zu sprechen? Was hätte er einem Hans Jonas mit seinem “Gottes­be­griff nach Auschwitz” ent­ge­gen­zuset­zen gehabt?

Span­nende Fra­gen … Dazu mehr in der näch­sten Folge am kom­menden Sam­stag, den 1. Juli.

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