Wir bleiben auch diesmal beim Thema “Neutralität” und beginnen mit einer kleinen Quizfrage:
Wie heisst die bis heute wohl umstrittenste Persönlichkeit der Schweiz, wohnhaft in einem kleinen Winzerdorf bei Genf, von Banken und Anwälten gehasst und von ihnen in eine Reihe von Prozesse verwickelt, die einen solchen Schuldenberg hinterliessen, dass sein Universitätsgehalt beschlagnahmt wurde **, mit seiner Familie zwei Jahre lang unter Polizeischutz stehend, aber auch heute noch mit seinen 88 Jahren hellwach und angriffig wie eh und je?
Die geneigten birsfaelder.li-LeserInnen haben es sicher erraten: Das kann nur der Ex-Universitätsprofessor, Ex-Parlamentarier und Ex-UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler sein …
Im Buch von Ex-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey “Die Neutralität. Mythos und Vorbild” wurde Ziegler eingeladen, seine Sichtweise zum Thema vorzustellen.
Nach einem kleinen historischen Rückblick auf die Entwicklung des Neutralitätsprinzips (Westfälischer Friede 1648, Wiener Kongress 1815) kommt Ziegler gleich auf ein Erlebnis zu sprechen, nämlich die Podiumsveranstaltung in Liestal zum Beitritt der Schweiz in die UNO im Februar 2002. Sein Kontrahent: SVP-Parteichef Christoph Blocher. Zündstoff pur! :
Blocher war in Hochform, und seine Sympathisanten füllten den Saal. Ich hatte im überhitzten Raum zwei Stunden lang einen schwierigen Stand. Bei jedem meiner Argumente für den Beitritt wurde ich niedergeschrien und mit Beleidigungen eingedeckt, von denen “Verräter” und “armer Tropf” noch die harmlosesten waren. (…)
Die Debatte, die der Abstimmung vorausgegangen war, war heftig gewesen. Das Totschlagargument der Gegner und namentlich von Christoph Blocher war die angebliche Teilnahmepflicht an Einsätzen der Blauhelme. … Das war reine Erfindung, die jedoch Emotionen und Ängste schürte. Es brauchte einen Brief des UNO-Generalsekretärs Kofi Annan an den Bundesrat, in dem der Schweiz bei einem Ja des Volks zum Beitritt ihre Neutralität garantiert wurde, um der Polemik ein Ende zu machen. Und in der Tat basieren die Einsätze gemäss Kapitel VII der Charta auf Freiwilligkeit.
Das Schweizer Volk nahm die Volksinitiative zum Beitritt der Schweiz zur UNO am 3. März 2002 mit 54,6 % und 11 Kantone und 2 Halbkantone an.
Ziegler wäre nicht Ziegler, wenn er anschliessend in Sachen Neutralität den Finger nicht auf wunde Punkte legte, z.B.:
— Bei einer Abstimmung in der Generalversammlung über eine Resolution für den Atomwaffenverbotsvertrag enthält sich die Schweiz der Stimme - wir sind ja neutral! - und schlägt sich somit auf die Seite von Nuklearmächten wie den USA, Frankreich und Russland.
- Der UNO-Migrationspakt wird nicht unterzeichnet - wir sind ja neutral! - obwohl er von unserer diplomatischen Vertretung in New York mitverfasst wurde.
Und dann kommt seine Grundsatzkritik:
Der Kampf um die Neutralität verlangt ständige Wachsamkeit. Auf unserem Staatsgebiet agieren überaus mächtig Akteure, die die Werte, für die die aktive Neutralität steht, in ihr pures Gegenteil verkehren. Es sind die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals, die transkontinentalen Privatkonzerne.
Bei näherer Betrachtung verhält sich unser Land schizophren: Einerseits gibt es den Staat, der mit unterschiedlichem Erfolg jene aktive Neutralität befördert, von der Spitteler träumte, und andererseits sind da die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals, die ausschliesslich die Profit-Maximierung betreiben. (…)
Die Schweiz beherbergt über 700 transkontinentale Unternehmen, die vor allem in den Bergbau und in landwirtschaftliche Rohstoffe investieren und damit handeln. Mehr als die Hälfte dieser Grosskonzerne haben ausländische Eigentümer, die die Schweiz wegen der exorbitanten Steuerprivilegien, die man ihnen gewährt, als Basis nutzen. Sie teilen keinen einzigen der Werte Spittelers.
Auf Bundesebene unterzeichnet die Schweiz internationale Abkommen, bekennt sich zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung und betätigt sich wo immer möglich als Vermittlerin. Aber insgesamt spricht die Schweiz mit doppelter Zunge. Einerseits betreibt sie eine aktive Neutralitätspolitik, setzt sich für verbindliche internationale Regeln ein und fördert die Menschenrechte. Und andererseits wird unser Land beherrscht von Oligarchien, die für die mörderische Weltordnung direkt verantwortlich sind.
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind auf unserem Planeten. Die Schweiz ist das Reich der Heuchelei von Staats wegen. Die Finanzoligarchie übt auf die bürgerliche Mehrheit im Bundesrat einen permanenten und oft entscheidenden Einfluss aus.
Starker Tobak! — Dass die Schweiz im Mai 2022 von den von der Schweizerischen Bankiervereinigung bezifferten 200 Milliarden russischen Bankvermögen gerade mal 10 Milliarden blockiert hat, ist selbstverständlich nur ein dummer Zufall.
Im Januar 2021 wurde Micheline Calmy-Rey von swissinfo.ch gefragt, warum sie Ziegler in ihrem Buch Platz einräumte:
Sie lassen im Buch Jean Ziegler zu Wort kommen, der die Schweiz als heuchlerisch bezeichnet. Was müsste die Schweiz Ihrer Meinung nach ändern, um nicht mehr als heuchlerisch zu gelten?
Es stellt sich die Frage, ob es mit der Neutralität vereinbar ist, wenn die Schweiz enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Staaten unterhält, die systematisch Menschenrechte verletzen oder in Konflikte verwickelt sind.
Ich bringe das Beispiel Saudi-Arabien: Die Schweiz verweigerte im Frühling 2019 ihre Zustimmung zur gemeinsamen Erklärung von rund drei Dutzend Staaten, welche die Freilassung von Menschenrechtsaktivisten sowie eine Ermittlung der Uno-Sonderberichterstatterin für aussergerichtliche Hinrichtungen im Fall Jamal Khashoggi forderte. Die Schweiz hat sich ihrer Stimme enthalten.
Da stellt sich die Frage: Hat man unsere humanitäre Tradition vergessen? Ist das im Interesse der Schweiz, die eigentlich ihren Einfluss stärken will, dass sie sich so zurückhaltend äussert? Es geht um unsere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Ich finde, man sollte nicht Wirtschaft und Neutralität gegeneinander ausspielen, sondern auf der internationalen Bühne kohärent agieren.
Micheline Calmy-Rey erlaubte auch SVP-Frontmann Roger Köppel, sich im Buch zur Neutralität der Schweiz zu äussern. Dazu mehr in der nächsten Folge
am Donnerstag, den 30. Juni
** Seit dem Erscheinen meines Buches “Die Schweiz wäscht weisser” im Februar 1990 haben mich nicht weniger als sieben Bankiers, Finanziers, Spekulanten und Wirtschaftanwälte in fünf Ländern auf Schadenersatz — Gesamtsumme über 24 Millionen FF — verklagt. Während ich diese Zeilen niederschreibe, sind einige dieser Prozesse im Gange. Andere habe ich bereits verloren. Im Juni 1991 wurde meine parlamentarische Immunität aufgehoben. (aus dem Vorwort des 2002 erschienenen “Wie herrlich, Schweizer zu sein: Erfahrungen mit einem schwierigen Land”)
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher