Als in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts eine nordamerikanische Delegation nach der anderen an die UNO in Genf pilgerte, ging es neben den Forderungen nach mehr Autonomie vor allem um eines: um die — wenigstens teilweise — Rückgängigmachung eines gigantischen Landraubs, denen die Indigenen über Jahrzehnte ausgesetzt waren. Der birsfaelder.li-Schreiberling erinnert sich noch gut an den sarkastischen Ausspruch eines irokesischen Delegierten:
Als die Weissen kamen, hatten wir das Land und sie die Bibel. Dann hatten wir die Bibel und sie das Land …
Die bittere Ironie daran ist, dass die Landnahme durch die weissen Siedler in Nordamerika gar nicht als Landraub empfunden wurde. Graeber/Wengrow erklären die Hintergründe:
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, etwas darüber zu wissen, auf welcher juristischen Grundlage Personen enteignet werden konnten, die unglücklicherweise in Gebieten lebten, die europäische Siedler begehrten. Enteignungen beruhten fast ausnahmslos auf dem von Juristen des 19. Jahrhunderts so bezeichneten »landwirtschaftlichen Argument«, das längst in der Praxis angewandt, aber erst später zu geltendem Recht wurde. Ein Prinzip, das in Australien, Neuseeland, Afrika südlich der Sahara und Amerika bei der Vertreibung unzähliger indigener Völker vom Land ihrer Vorfahren eine große Rolle spielte – eine Vertreibung, die gewöhnlich mit Vergewaltigung, Folter und Massenmord und oft mit der Zerstörung ganzer Zivilisationen einherging.
Die koloniale Aneignung indigenen Landes begann oft mit der pauschalen Behauptung, Jäger und Sammler lebten im Naturzustand und deshalb gehörten sie zum Land, hätten aber keinen juristischen Anspruch auf dessen Besitz. Der tiefere Grund für die Enteignung wiederum war der Gedanke, die Bewohner der fraglichen Gebiete arbeiteten nicht wirklich. Das Argument geht auf John Lockes Zweite Abhandlung über die Regierung (1690) zurück, in der er die Ansicht vertritt, das Eigentumsrecht sei notwendig von der Arbeit abgeleitet.
Indem man das Land bearbeitet, »vermischt man seine Arbeit« mit ihm und dadurch erweitere sich der Bearbeitende gewissermaßen selbst. Faule Eingeborene, so Lockes Anhänger, täten dies nicht. Sie seien keine »verbessernden Landbesitzer«, sondern nutzten lediglich das Land, um ihre Grundbedürfnisse mit minimaler Anstrengung zu befriedigen.
James Tully (* 1946), ein heutiger Experte für die Rechte der Ureinwohner, verdeutlicht, welche Folgen dies damals hatte: Land, das zum Jagen und Sammeln genutzt wird, gilt somit als frei, und »wenn die Ureinwohner versuchen, die Europäer ihren eigenen Gesetzen und Gebräuchen zu unterwerfen oder die Gebiete zu verteidigen, die sie seit Tausenden von Jahren irrtümlich für ihr Eigentum halten, dann sind sie es, die gegen das Naturrecht verstoßen und bestraft oder wie ›wilde Tiere‹ ›vernichtet‹ werden können«.
Ähnlich diente das Stereotyp des sorglosen, faulen Eingeborenen, der ohne materiellen Ehrgeiz durchs Leben spaziert, Tausenden von europäischen Eroberern, Plantagenaufsehern und Kolonialbeamten in Asien, Afrika, Lateinamerika und Ozeanien als Vorwand, bürokratischen Terror einzusetzen, um die Lokalbevölkerung zur Arbeit zu zwingen – mit allen Mitteln: von der offenen Versklavung über Strafsteuersysteme und Fronarbeit bis zur Schuldknechtschaft.
Die unterschiedliche Beziehung indigener Völker und der Weissen zum Landbesitz zeigt sich exemplarisch an den Black Hills in Süddakota.
Im Vertrag von Fort Laramie 1868, den die US-Regierung mit den Lakota‑, Cheyenne– und Arapaho-Indianern abschloss, wurden den drei Völkern das Sioux-Reservat zugesprochen und die Black Hills den Lakota als exklusives Jagdgebiet zugesichert. Eine nach dem Vertrag illegale Expedition unter George Armstrong Custer erkundete 1874 die Black Hills und fand in den Bergen Gold. Nach den Goldfunden versuchte die Regierung die Lakota zu einer Abtretung der Bergkette zu bewegen, allerdings ohne Erfolg. Goldsucher drangen rechtswidrig in das Gebiet ein, es entwickelte sich ein Goldrausch. Konflikte im Winter 1875/76 führten zum erneuten Einsatz Custers und des 7. Kavallerie-Regiments und der Schlacht am Little Bighorn im Juni 1876. Nach der endgültigen Niederlage der Indianer im Herbst desselben Jahres wurden 1877 das große Sioux-Reservat zerschlagen und den Lakota die Black Hills entzogen. (Wikipedia).
Abgesehen von der schreienden Ungerechtigkeit kam hinzu, dass für die Lakota die Black Hills ein heiliges Territorium war — und immer noch ist. 1921 strengten sie deshalb einen Prozess gegen die amerikanische Regierung an, der 1980 mit dem Angebot endete, die Lakota mit 105 Millionen Dollar für den Verlust der Black Hills zu entschädigen. Obwohl das Lakota-Reservat zu den ärmsten Regionen der USA gehört, lehnten deren Vertreter das Angebot rundweg ab: Man verkauft kein heiliges Land.
Erst seit Kurzem wird auch klar, dass der Mythos der unreifen und glücklichen Naturkinder, die mit dem Land, auf dem sie lebten, nichts anzufangen wussten, eben genau das ist:
ein — falscher — Mythos. Und die Definition, was “landwirtschaftliche Nutzung” heisst, genauso:
Wie indigene Juristen schon seit Jahren betonen, macht das »landwirtschaftliche Argument« selbst für sich genommen keinen Sinn. Denn es gibt viele andere Arten als die Landwirtschaft europäischen Stils, wie man Land pflegen und seine Produktivität erhöhen kann. Was in den Augen der Siedler wie unberührte Wildnis aussah, war gewöhnlich ein Naturraum, den seine indigene Bevölkerung seit Jahrtausenden bewirtschaftete.
Dies geschah, indem man Pflanzen kontrolliert abbrannte, jätete, stutzte, düngte und beschnitt, Flussmündungsgebiete terrassierte, um den Lebensraum bestimmter Wildpflanzen zu erweitern, indem man Muschelgärten in Gezeitenzonen anlegte, um die Vermehrung von Schalentieren zu fördern, indem man Wehre errichtete, um Lachse, Barsche und Störe zu fangen, und vieles mehr.
Diese Verfahren waren oft arbeitsintensiv und wurden durch indigene Gesetze reguliert, die bestimmten, wer Zugang zu Hainen, Sümpfen, Wurzelbänken, Grasland und Fischgründen hatte und wer zu welcher Zeit des Jahres welche Spezies nutzen durfte. In Teilen Australiens waren diese indigenen Techniken der Landbewirtschaftung so ausgeprägt, dass wir überhaupt nicht mehr von Jagen und Sammeln, sondern von einer anderen Art der Landwirtschaft sprechen sollten.
Solche Gesellschaften verfügten zwar über kein Eigentumsrecht im Sinne des römischen Rechts, aber es ist absurd zu behaupten, sie hätten überhaupt kein Eigentumsrecht gehabt. Sie besaßen einfach andere Vorstellungen von Eigentum.
Wir bleiben in der nächsten Folge beim Thema “Eigentum”, und dies wie immer
am kommenden Freitag, den 1. Juli
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Louis Kuhn
Jul 21, 2022
Zum angeblichen „landwirtschaftlichen Argument“ von Locke zur Rechtfertigung der Kolonialisierung, in Reichsidee 47, von Max Feurer zu Graeber/Wengrow
„In diesem Zusammenhang ist es wichtig, etwas darüber zu wissen, auf welcher juristischen Grundlage Personen enteignet werden konnten, die unglücklicherweise in Gebieten lebten, die europäische Siedler begehrten. Enteignungen beruhten fast ausnahmslos auf dem von Juristen des 19. Jahrhunderts so bezeichneten »landwirtschaftlichen Argument«, das längst in der Praxis angewandt, aber erst später zu geltendem Recht wurde. Ein Prinzip, das in Australien, Neuseeland, Afrika südlich der Sahara und Amerika bei der Vertreibung unzähliger indigener Völker vom Land ihrer Vorfahren eine große Rolle spielte – eine Vertreibung, die gewöhnlich mit Vergewaltigung, Folter und Massenmord und oft mit der Zerstörung ganzer Zivilisationen einherging.
Die koloniale Aneignung indigenen Landes begann oft mit der pauschalen Behauptung, Jäger und Sammler lebten im Naturzustand und deshalb gehörten sie zum Land, hätten aber keinen juristischen Anspruch auf dessen Besitz.
Der tiefere Grund für die Enteignung wiederum war der Gedanke, die Bewohner der fraglichen Gebiete arbeiteten nicht wirklich.
Das Argument geht auf John Lockes Zweite Abhandlung über die Regierung (1690) zurück, in der er die Ansicht vertritt, das Eigentumsrecht sei notwendig von der Arbeit abgeleitet.
Indem man das Land bearbeitet, »vermischt man seine Arbeit« mit ihm und dadurch erweitere sich der Bearbeitende gewissermaßen selbst. Faule Eingeborene, so Lockes Anhänger, täten dies nicht. Sie seien keine »verbessernden Landbesitzer«, sondern nutzten lediglich das Land, um ihre Grundbedürfnisse mit minimaler Anstrengung zu befriedigen“.
1. Man mache sich nichts vor. Wenn jemand (ein Einzelner, eine juristische Person, ein Staat) sich etwas unter den Nagel reissen will, dann tut er das. Eine andere Frage ist, womit die europäischen die Kolonisatoren, angeblich John Locke Anhänger, dies rechtfertigten. Ob mit einem (pseudo)theologischen oder einer naturrechtlichen Deckmantel, kommt auf’s selbe hinaus.
2. Zumindest sollten die Juristen des 19. Jh., wenn sie sich schon auf Locke beriefen, ihn gelesen haben und ihn nicht gar verdrehen.
3. a. Locke ist davon ausgegangen, dass das Land ursprünglich niemandem, auch keinem Herrscher gehört.
b. Die Aneignung (privaten) Eigentums rechtfertig sich aus dem Anspruch auf Selbsterhaltung. Die Menschen, nachdem sie einmal geboren sind, haben ein Recht auf ihre Erhaltung und somit auf Speise und Trank und alle anderen Dinge, die die Natur für ihren Unterhalt hervorbringt.
c. Aber als Beispiel für diese Aneignung nimmt Locke — doch wohl nicht zufällig — gerade nicht die eines Stückes Land, sondern die Aneignung eines vom Baum gefallenen Stückes Obst: Es gehört dem, der es aufgehoben hat, weil er es durch das Aufheben mit seiner Arbeit vermischt hat.
d. Das ist nach Locke bereits Arbeit und nicht erst das fleissige agrarische Hacken, Schaufeln, Säen…
e. Zwei wichtige Einschränkungen der Aneignung von Eigentum kommen von Locke hinzu:
— Man darf der Natur nicht mehr entnehmen, als man selbst verbrauchen kann.
— Andere Menschen dürfen/müssen ebenfalls genug von der gemeinsam gegebenen Natur erhalten, um selbst überleben zu können.
4. Genauer genommen geht es bei Locke in diesem Zusammenhang gar nicht um Aneignung im kolonisatorischen und damit auch in unserem heutigen Sinn von Grund und Boden, sondern um Nutzung (ususfructus). So viel — so Locke — als ein jeder für sein Leben nutzen kann, bevor es verdirbt, darf er sich zu seinem Eigentum machen. Was darüber hinausgeht, ist mehr als ihm zusteht, und gehört (auch) den anderen. Nichts wurde von Gott geschaffen, um zerstört zu werden.
5. Diesen letzten Lockeschen Gedanken müssten sich die rücksichtslosen Kolonisatoren — und wir bis heute – besonders merken. Es ist schon viel, wenn man so wenig wie möglich — durch Über‑, Wegwerf- und Abfallproduktion — verderben liesse. Man hat mit der Natur sorgfältig umzugehen. Schon gar nicht darf man sie zerstören und Menschen umbringen
6. Soviel über Locke kann man bereits bei wiki unter „Arbeit“ nachlesen https://de.wikipedia.org/wiki/John_Locke#Naturrechtslehre.
7. Das „landwirtschaftliche Argument“ der späteren Juristen des 19. Jh. keine Locksche Grundlage. Es war unzulässig, es mit Berufung auf Locke zur geltenden Rechtsgrundlage für faustrechtliche Land-Aneignungen zu machen. Weder mit der Verdrehung Lockes Gedanken noch mit der anderer Autoren kann man die Verbrechen der Kolonialgeschichte rechtlich beschönigen. Leider gibt es bis heute immer noch Juristen, auch in anderen Rechtsgebieten, die immer noch meinen, etwas sei bereits Recht und Gesetz, wenn es in eine äusserlich durch Paragrafen und Artikel beindruckende Form eingekleidet ist. Die kritische Aufklärungsarbeit von Max Feurer aufgrund der Darstellung von Graeber/Wengrow ist deshalb unerlässlich und wertvoll.
Louis Kuhn, 21.7.2022