Wolin macht in seinem Buch deut­lich, dass es sich beim Begriff “Umgekehrter Total­i­taris­mus” (engl. “Invert­ed total­i­tarisme”) um eine noch zu ver­tiefende Arbeit­shy­pothese handelt.

In der Regel ver­ste­hen wir unter “Total­i­taris­mus” eine Regierungs­form, die mit mas­siv­en äusseren Zwangsmit­teln und ide­ol­o­gis­ch­er Indok­tri­na­tion operiert. Beispiele brauchen wohl kaum aufgezählt zu wer­den. Nach dem Unter­gang des “klas­sis­chen” Faschis­mus nach dem zweit­en Weltkrieg etablierte sich im Kalten Krieg der Kon­sens, dass einem total­itären kom­mu­nis­tis­chen Macht­block ein “freier West­en” gegenüber­ste­he. Wolin erlaubte sich, dieses gängige Nar­ra­tiv immer wieder zu hin­ter­fra­gen, — am klarsten in seinem erwäh­n­ten let­zten Buch.

Was also ist unter “Umgekehrter Total­i­taris­mus” zu verstehen?

Laut Wolin sind es die sub­tilen Mech­a­nis­men, die uns daran hin­dern, das Sys­tem des wel­tumspan­nen­den neolib­eralen Kap­i­tal­is­mus zu hin­ter­fra­gen. Das Per­fide daran:
Während Sys­teme des klas­sis­chen Total­i­taris­mus “ihren Bruch mit dem Ver­fas­sungssys­tem der Ver­gan­gen­heit feierten, statt ihn zu ver­schleiern”, entste­he der “umgekehrte Total­i­taris­mus” schle­ichend und in schein­bar unge­broch­en­er Kon­ti­nu­ität mit den vorhan­de­nen demokratis­chen Struk­turen. Anders als der klas­sis­che Total­i­taris­mus demon­tiert er die vor­liegen­den demokratis­chen Prak­tiken nicht, son­dern benutzt sie ger­ade, um genau ent­ge­genge­set­zte Ziele zu erre­ichen; eine Ent­poli­tisierung der Bürg­er­schaft (…) “Der klas­sis­che Total­i­taris­mus mobil­isiert seine Unter­ta­nen; der umgekehrte Total­i­taris­mus frag­men­tiert sie”. Er fördere “eher poli­tis­ches Desin­ster­esse als massen­hafte poli­tis­che Aktiv­ität”. Er pro­duziere “ein Gefühl der Schwäche und der kollek­tiv­en Verge­blichkeit, die kul­miniert in der Aushöh­lung des demokratis­chen Glaubens, in poli­tis­ch­er Apathie und in der Pri­vatisierung des Selb­st.(sämtliche Zitate aus dem Vor­wort von Rain­er Mausfeld)

Abge­se­hen von einem rück­sicht­slosen Abbau sozial­staatlich­er Struk­turen in den USA und ein­er mas­siv­en Ausweitung unsicher­er und prekär­er Arbeitsver­hält­nisse, welche Gefüh­le von Unsicher­heit, poli­tis­ch­er Ohn­macht und eine Atmo­sphäre laten­ter Angst her­vor­rufen, sieht Wolin einen Haupt­grund für diese poli­tis­che Apathie in ein­er immer uni­former wer­den­den Medi­en­land­schaft, die geschichtsvergessen grundle­gende Fra­gen zum Sinn oder Unsinn des aktuellen kap­i­tal­is­tis­chen Sys­tems gar nicht mehr zu stellen wagt:
Die grossen Medi­en in Verbindung mit Kul­turindus­trie und dem gesamten Aus­bil­dungssek­tor haben den Denk- und Imag­i­na­tion­sraum des “bürg­er­lichen Geistes” auf das Hier und Jet­zt und somit auf den Sta­tus Quo gegen­wär­tiger Machtver­hält­nisse verengt. Ein­sicht­en und Erfahrun­gen frühere sozialer Bewe­gun­gen, durch die erst emanzi­pa­torische Errun­gen­schaften und zivil­isatorische Fortschritte erkämpft wur­den, ste­hen damit de fac­to dem öffentlichen Denkraum nicht mehr für ein poli­tis­ches Han­deln zur Ver­fü­gung. Damit sind auch die Leitideen und Instru­mente, die solche Erfolge ermöglicht haben, dem kollek­tiv­en Vergessen anheimge­fall­en. Gedächt­nis- und ori­en­tierungs­los ver­har­rt der “bürg­er­liche Geist” im Gegen­wär­ti­gen. Ohne ein Bewusst­sein iden­titätss­tif­ten­der und gemein­schaftss­tif­ten­der geschichtlich­er Kon­ti­nu­itäten muss jed­er Wider­stand frag­men­tiert und wirkungs­los bleiben.

Der Lin­guist und Anar­chist Noam Chom­sky, ein Brud­er im Geiste, for­mulierte die gle­iche Ein­sicht so:
Der intel­li­gente Weg, Men­schen pas­siv und fügsam zu hal­ten, beste­ht darin, das Spek­trum akzept­abler Mei­n­un­gen strikt zu begren­zen, aber eine sehr leb­hafte Debat­te inner­halb dieses Spek­trums zu ermöglichen – und sog­ar kri­tis­chere und abwe­ichende Ansicht­en zu fördern. Das gibt den Men­schen das Gefühl, dass freies Denken stat­tfind­et, während die Voraus­set­zun­gen des Sys­tems immer wieder durch die Gren­zen des zuläs­si­gen Bere­ichs der Debat­te ver­fes­tigt wer­den. (Chom­sky, The Com­mon Good, 1998, S. 43)

Es stellt sich hier natür­lich die Frage, inwiefern die Analyse Wolins, die sich vor allem auf die Ver­hält­nisse in den USA bezieht, auch für die Schweiz rel­e­vant ist.

Eine Ent­war­nung ist mein­er Ansicht nach nur teil­weise erlaubt. Unsere Medi­en­land­schaft ist zwar ein­deutig vielfältiger und kri­tis­ch­er als in den USA. Hochqual­i­fizierte Jour­nal­istin­nen und Jour­nal­is­ten regen täglich zum Denken und Hin­ter­fra­gen an. Was aber bei uns in der bre­it­en Bevölkerung eben­falls ver­loren gegan­gen ist, ist ein solides geschichtlich­es Hin­ter­grund­wis­sen, das uns erlauben würde, aus dem heute von der SVP zele­bri­erten tum­ben Geschichts­bild der Eidgenossen­schaft auszubrechen.

Wem sind die mas­siv­en Umbrüche und inten­siv­en poli­tis­chen Auseinan­der­set­zun­gen  in der Eidgenossen­schaft des 18. und 19. Jahrhun­derts noch bewusst? Der mod­erne Bun­desstaat ent­stand in harten jahrzehn­te­lan­gen Auseinan­der­set­zun­gen mit restau­ra­tiv­en Kräften im In- und Aus­land. Und vor allem: Wem ist klar, dass er nur dank einem inten­siv­en Zusam­men- und Wider­spiel mit dem restlichen Europa entste­hen konnte?

Par­a­dig­ma­tisch seien auf so wichtige Akteure wie Charles Pictet de Rochemont, Frédéric Laharpe, Peter Ochs oder Ignaz P.V. Trox­ler ver­wiesen. Ohne sie wäre die Eidgenossen­schaft schon lange auf dem “Abfall­haufen der Geschichte” gelandet. Wer ken­nt sie und ihre entschei­den­den Beiträge zur Entste­hung der heuti­gen Schweiz noch?

Doch wie hal­ten wir es mit der radikalen Kap­i­tal­is­muskri­tik Wolins? Er meint, der heutige Finanzkap­i­tal­is­mus erweit­ere sich Schritt um Schritt zu einem Überwachungskap­i­tal­is­mus, der auf eine voll­ständi­ge Kon­trolle aller Lebens­bere­iche und eine total­itäre Erfas­sung und Steuerung der Men­schen ziele:
Kein Indok­tri­na­tion­ssys­tem der Geschichte ver­mag es, so raf­finiert und so tiefre­ichend natür­liche Eigen­schaften des men­schlichen Geistes für Zwecke der Manip­u­la­tion und der Sta­bil­isierung sein­er eige­nen Machtver­hält­nisse auszunutzen — eine nahezu per­fek­te Form von Herrschaft, da sie kaum noch als Herrschaft emp­fun­den wird. … Somit ist es nicht über­raschend, dass die Mehrzahl der Bevölkerung sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kap­i­tal­is­mus vorstellen kann. Erst­mals in der Geschichte gelang es … total­itäre Macht gle­ich­sam unsicht­bar zu machen und als reine alter­na­tivlose Ratio­nal­ität auszugeben. 

Span­nende Fra­gen! Was würde uns jen­seits des kap­i­tal­is­tis­chen “Garten­za­uns” wohl erwarten?

Am Schluss seines Buch­es geht Wolin auf das Umfeld ein, das demokratis­ches poli­tis­ches Bewusst­sein fördert: Demokratis­ches poli­tis­ches Bewusst­sein kann zwar über­all und zu jed­er Zeit entste­hen, wird aber am ehesten in lokalen, klein­räu­mi­gen Kon­tex­ten aus­ge­bildet, wo sowohl die neg­a­tiv­en Fol­gen poli­tis­ch­er Macht­losigkeit als auch die pos­i­tiv­en Möglichkeit­en poli­tis­chen Engage­ments am offen­sichtlich­sten scheinen. Fern­er kann eine vitale lokale Demokratie dazu beitra­gen, die unver­mei­dliche Dis­tanz zwis­chen der repräsen­ta­tiv­en Regierung und ihren Wäh­ler­schaften zu über­brück­en. Die Demokratie kann einen gen­uin wertvollen Beitrag zur nationalen Poli­tik leis­ten. Doch ist sie auf eine Poli­tik angewiesen, die lokal ver­wurzelt ist, die täglich gelebt und regelmäßig prak­tiziert wird und nicht nur spo­radisch mobil­isiert wird. Demokratis­che Erfahrung begin­nt auf der lokalen Ebene.

Wenn ich an die kür­zliche inten­sive, aber faire Auseinan­der­set­zung zum Birs­felder Zen­trum­spro­jekt denke, die hof­fentlich zu ein­er opti­mierten Über­ar­beitung des Pro­jek­ts führt, ste­hen wir in Sachen echte Demokratie auch in den Augen Wolins vielle­icht gar nicht so schlecht da …

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