Bevor wir uns den Kopf dar­über zer­bre­chen, wie man denn nun “Demo­kra­tin” oder “Demo­krat” defi­nie­ren soll, wol­len wir den Auf­ruf zur Kennt­nis neh­men, denn Mari­an­ne Wil­liam­son vor kur­zem an die ame­ri­ka­ni­sche Nati­on rich­te­te. Vor­der­grün­dig geht es nur um die USA. In Tat und Wahr­heit betrifft das, was sie zu sagen hat, alle Demo­kra­tien auf die­ser Erde, die Schweiz inklu­si­ve. Die­se ist ja im Grun­de aus ver­fas­sungs­mäs­si­ger Per­spek­ti­ve eine “Toch­ter” der Ver­ei­nig­ten Staaten.

Auch wenn die Gefahr des Zusam­men­bruchs der Demo­kra­tie in Euro­pa bei wei­tem nicht so gross ist wie aktu­ell in den USA, lohnt es sich zu über­le­gen, wel­che ihrer Aus­füh­run­gen auch uns ange­hen könn­ten. (Wer lie­ber den Ori­gi­nal­text in Eng­lisch lesen möch­te, fin­det ihn hier.)

Wenn ich an den Zustand unse­res Lan­des heu­te den­ke, bin ich dank­bar für mein Wis­sen über die ame­ri­ka­ni­sche Geschich­te. Ich bin kei­ne Gelehr­te, aber ich weiß genug, um zu wis­sen, dass die Her­aus­for­de­run­gen, mit denen wir heu­te kon­fron­tiert sind, Wie­der­ho­lun­gen von Her­aus­for­de­run­gen sind, denen wir in der Ver­gan­gen­heit gegen­über­stan­den. Wir haben schon frü­her dunk­le Zei­ten durch­lebt und sie über­stan­den. Dies ist nicht der Zeit­punkt, um Ame­ri­ka aufzugeben.

Ame­ri­ka ist nicht nur ein Ort oder die Mani­fes­ta­ti­on von finan­zi­el­ler, mili­tä­ri­scher oder tech­no­lo­gi­scher Macht. Es ist ein Ide­al — ein Land, das in den Wor­ten Abra­ham Lin­colns “in Frei­heit kon­zi­piert und der Idee gewid­met ist, dass alle Men­schen gleich geschaf­fen sind.” Es ist der Gedan­ke, der in unse­rer Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung nie­der­ge­schrie­ben ist, dass alle Men­schen unver­äu­ßer­li­che Rech­te auf Leben, Frei­heit und das Stre­ben nach Glück haben und dass kei­ne Per­son oder Grup­pe von Men­schen unter der Last der Knecht­schaft gegen­über den Mäch­ti­ge­ren leben soll­te. Es ist eine Absa­ge an die aris­to­kra­ti­sche Vor­stel­lung, dass nur eini­ge Men­schen Anspruch auf die Reich­tü­mer des Lebens haben, wäh­rend ande­re nie­mals in der Lage sein kön­nen, sie sich zu ver­schaf­fen. Es ist ein Bekennt­nis zu dem Gedan­ken, dass Gott uns alle gleich geschaf­fen hat und dass das Gesetz uns daher auch so behan­deln sollte.

Wir haben die­ses Ide­al nie voll­stän­dig ver­kör­pert; tat­säch­lich haben wir manch­mal als bös­ar­ti­ge und gewalt­tä­ti­ge Täter gegen die­ses Ide­al gehan­delt. Von unse­ren frü­hes­ten Anfän­gen an, die mit der Skla­ve­rei began­nen und sich über den Völ­ker­mord an den ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­nern, die insti­tu­tio­na­li­sier­te Unter­drü­ckung der Frau­en, die Ras­sen­tren­nung und die “Rote Angst” der 1950er Jah­re (McCar­thy-Ära ) erstreck­ten, gibt es eine häss­li­che Sei­te von Bigot­te­rie und Ras­sis­mus, die sich durch unse­re Geschich­te zieht. Aber so wie die­sen Phä­no­me­nen mit der Kraft muti­ger Genera­tio­nen begeg­net wur­de, die sich dage­gen wehr­ten, ist es das Schick­sal unse­rer Genera­ti­on, sich gegen die Kräf­te zu weh­ren, die das ame­ri­ka­ni­sche Ide­al heu­te unter­gra­ben wollen.

Es ist nichts Neu­es, dass Ame­ri­ka sowohl das Bes­te als auch das Schlech­tes­te vor­stellt. Wir sind vie­le Men­schen und wir sind vie­le Din­ge. Wir ver­feh­len das Ziel, wenn wir uns nur auf eine bestimm­te Eigen­schaft kon­zen­trie­ren. Unse­re Geschich­te wie auch unse­re Gegen­wart sind durch­zo­gen von Unge­rech­tig­kei­ten, aber auch von Groß­ar­tig­keit. Aber was sind wir, fra­gen sich man­che: ein Land mit ras­sis­ti­schen Wur­zeln oder ein Land der Chan­cen? Die tra­gi­sche Iro­nie ist, dass Ame­ri­ka bei­des ist. Wir waren schon immer bei­des, und es ist die Auf­ga­be unse­rer Genera­ti­on, die unan­ge­neh­me Gegen­über­stel­lung zwi­schen bei­dem in Ein­klang zu bringen.

Die­je­ni­gen, die sich nur auf das kon­zen­trie­ren, was Ame­ri­ka rich­tig gemacht hat, über­se­hen etwas Wich­ti­ges, sie igno­rie­ren absicht­lich die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit und der Gegen­wart und ver­mei­den schein­hei­lig die Arbeit der natio­na­len Selbst­ver­bes­se­rung. Aber auch die­je­ni­gen, die sich nur auf das kon­zen­trie­ren, was Ame­ri­ka falsch gemacht hat, über­se­hen etwas Wich­ti­ges: Sie ver­säu­men es, die­je­ni­gen in unse­rer Ver­gan­gen­heit zu ehren, die gese­hen haben, was falsch war, und die es oft unter gro­ßen Opfern rich­tig gemacht haben. Zynis­mus ist nur eine Ent­schul­di­gung dafür, nicht zu hel­fen. Wir müs­sen mit dem, was wir falsch gemacht haben, abrech­nen und dafür büßen — und ja, wir müs­sen es unse­ren Kin­dern bei­brin­gen und nicht die Bücher ver­bren­nen, die es ihnen ent­hül­len wür­den. Aber wir müs­sen uns auch die Grund­wer­te der ame­ri­ka­ni­schen Demo­kra­tie zu eigen machen, ganz gleich, wie zer­fled­dert und zer­ris­sen sie auch sein mögen, und wir müs­sen sie auch unse­ren Kin­dern bei­brin­gen — indem wir die­je­ni­gen ehren, die unse­re demo­kra­ti­schen Prin­zi­pi­en geför­dert haben, und sie dar­auf vor­be­rei­ten, Men­schen zu sein, die sie jetzt för­dern werden.

Für die­je­ni­gen, die befürch­ten, dass Ame­ri­ka eine Gesell­schaft im Nie­der­gang ist, ist die Sor­ge legi­tim. Die Säu­len unse­rer Demo­kra­tie sind erschüt­tert wor­den und zit­tern noch immer — von der Unter­drü­ckung der Demo­kra­tie über den Auf­stieg des ein­hei­mi­schen Auto­ri­ta­ris­mus bis hin zum schein­bar end­lo­sen Mili­ta­ris­mus und der Kor­rup­ti­on unse­rer poli­ti­schen Insti­tu­tio­nen durch Unter­neh­mens- und Finanz­in­ter­es­sen. Kri­mi­nel­le, ras­sis­ti­sche und wirt­schaft­li­che Unge­rech­tig­keit wüten. All die­se Din­ge sind wahr. Aber ihr Fort­be­stehen ist nicht unver­meid­lich, und die Din­ge sind nicht so weit fort­ge­schrit­ten, dass nicht noch ein Wun­der mög­lich wäre. 

Und wie sieht die­ses poli­ti­sche Wun­der nun aus? Es beginnt mit einer Ver­än­de­rung nicht in unse­ren Insti­tu­tio­nen, son­dern in uns selbst — einem grund­le­gen­den Bruch mit der Selbst­ge­fäl­lig­keit, der Ablen­kung und der Selbst­be­zo­gen­heit, die es über­haupt erst ermög­licht haben, dass die Din­ge so schlimm gewor­den sind. Wir müs­sen uns ein­ge­ste­hen, dass wir im Stre­ben nach der Ver­wirk­li­chung unse­rer indi­vi­du­el­len Zie­le zu oft die staats­bür­ger­li­chen Pflich­ten ver­nach­läs­sigt haben, indem wir viel­leicht zur Wahl gegan­gen sind, aber dar­über hin­aus die Auf­ga­be, unser Staats­schiff zu steu­ern, einer poli­ti­schen Klas­se über­las­sen haben. Und das war unser Feh­ler, nicht der eines ande­ren. Wenn Unter­neh­mens­lob­by­is­ten jede Stun­de an jedem Arbeits­tag mit unse­ren Gesetz­ge­bern spre­chen, reicht es nicht aus, dass sie nur alle zwei oder vier Jah­re von uns gehört haben. Der Erfolg des ame­ri­ka­ni­schen Expe­ri­ments ist nicht garan­tiert; es ist ein lau­fen­der Pro­zess. Die Demo­kra­tie ist nie eine voll­ende­te Tat­sa­che; sie kann nie als selbst­ver­ständ­lich ange­se­hen wer­den. Unse­re Genera­ti­on lernt das gera­de auf die har­te Tour.

Ja, wir sind jetzt in Schwie­rig­kei­ten. Vier­zig Jah­re lang hat die­ses Land mit der Kata­stro­phe geflir­tet — und jetzt ist sie da. Aber Kata­stro­phen haben uns schon frü­her heim­ge­sucht, und unse­re Vor­fah­ren haben nicht auf­ge­ge­ben; sie haben reagiert. Um ihrer selbst und um ihrer Kin­der wil­len waren sie der Mei­nung, dass es sich lohnt, für das ame­ri­ka­ni­sche Ide­al zu kämp­fen. Und das taten sie auch. Sie wuss­ten nicht immer, was sie tun soll­ten. Aber sie waren davon über­zeugt, dass, was immer es war, getan wer­den muss­te, und sie waren bereit, es zu tun. Die­se Über­zeu­gung wur­de zum Leucht­feu­er, das sie bis zur Ziel­li­nie führ­te. 

Der Kampf für wirt­schaft­li­che und sozia­le Gerech­tig­keit ist heu­te schwie­rig, aber er ist nicht schwie­ri­ger als das, was ande­re Genera­tio­nen ertra­gen haben. Unse­re Vor­fah­ren, die in der Ver­gan­gen­heit unse­re Frei­hei­ten bewahrt und geför­dert haben, waren kämp­fe­risch, sie waren ent­schlos­sen und sie waren mutig. Mehr als alles ande­re haben sie sich dem Augen­blick zur Ver­fü­gung gestellt. Und sie haben sich durchgesetzt.

Der Akti­vis­mus und die Lei­den­schaft unse­rer Vor­fah­ren sind heu­te noch leben­dig, auch wenn sie manch­mal unter­drückt wer­den. Es sind beängs­ti­gen­de, aber ver­än­der­ba­re Zei­ten. Der Geist, bes­ser zu sein, bes­ser zu machen, sowohl indi­vi­du­ell als auch kol­lek­tiv, ist in unse­rem psy­chi­schen Blut­kreis­lauf so leben­dig wie eh und je. Ich sehe ihn in so vie­len Men­schen. Ich weiß, dass er da ist.

Ja, es stimmt also, dass sich heu­te das schlimms­te Gesicht des ame­ri­ka­ni­schen Cha­rak­ters zeigt. Und es ist beängs­ti­gend. Es ist aktiv, es ist poli­ti­siert, und es ist auf dem Vor­marsch. Dar­an gibt es kei­nen Zwei­fel. Aber es gibt noch etwas ande­res, etwas Schö­nes und Wich­ti­ges, das die tie­fe­re Wahr­heit des­sen ist, was wir sind. Und auch das ist in Bewe­gung. Ich sehe es an den Men­schen, die ihr Leben trotz aller Wid­rig­kei­ten ver­bes­sern, die sich gegen die Maschi­ne­rie der Kon­zer­ne zur Wahl stel­len, die sich trotz Ein­schüch­te­rung gewerk­schaft­lich orga­ni­sie­ren, die Gemein­schafts­gär­ten anle­gen, die gegen Unge­rech­tig­keit kämp­fen, die sich den Ängs­ten, Gefah­ren und Ein­schüch­te­run­gen stel­len, denen sie aus­ge­setzt sind, und die den­noch jeden Mor­gen auf­ste­hen, um auf­recht und stolz für all das zu ste­hen, was gut, wahr und schön ist — einen wei­te­ren Tag lang.

Mit den Wor­ten von Mahat­ma Gan­dhi: “Wenn jede Hoff­nung ver­lo­ren ist, wenn Hel­fer ver­sa­gen und Trost flieht, dann kommt die Hil­fe irgend­wie, ich weiß nicht woher.” Ich glau­be in mei­nem Her­zen, dass sie für uns ankom­men wird.

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