Dass Fritz Brup­bach­er sich schon in jun­gen Jahren für die Frauen­e­manzi­pa­tion ein­set­zte, haben wir in der let­zten Folge erfahren. Eines Tages stiess er auf das Buch “Das Weib in sein­er geschlechtlichen Eige­nart” des Direk­tors der Uni­ver­sitäts-Frauen­klinik in Göt­tin­gen. Darin pos­tulierte dieser unter anderem: Auszus­prechen, dass das Weib weniger wahrheit­sliebend ist als der Mann, hin­dert uns gewöhn­lich die Galanterie … Eine der grössten Tugen­den des Weibes ist seine Schamhaftigkeit. … Da das Weib nun geschlechtlich weit unvol­lkommen­er gebaut ist als der Mann, so musste mit der grösseren Unvol­lkom­men­heit ihm auch die grössere Schamhaftigkeit ver­liehen werden.

Brup­bach­er goss Hohn und Spott über den gelahrten Pro­fes­sor, was wiederum bei den Zürcher Pro­fes­soren zu grossem Unmut führte, so dass sie ihm später die Pro­mo­tion wegen “gröblich­er Pro­fes­soren­belei­di­gung” verweigerten.

Am meis­ten fühlte sich der junge Stu­dent zur Psy­chi­a­trie hinge­zo­gen und besuchte “mit mass­los­er Begeis­terung” die klin­is­chen Vor­lesun­gen von Auguste Forel. Nach dem Staat­sex­a­m­en fuhr er nach Paris, um sich an der dank Neu­rolo­gen wie Char­cot  welt­berühmt gewor­de­nen “Salpêtrière” weit­erzu­bilden, wo schon Sig­mund Freud entschei­dende Impulse erhal­ten hat­te. Doch der Besuch erwies sich für ihn als enttäuschend.

Wichtiger war der Ein­blick, den er dank seinem Aufen­thalt in der Fam­i­lie eines Onkels, einem ver­mö­gen­den Antiq­ui­täten­händler,  in das gross­bürg­er­liche Ambi­ente in Paris erhielt. Sein Urteil war bald gemacht: Die kap­i­tal­is­tis­che Gesellschaft ist unverbesser­lich. Sie ist unge­bildet, Tier in jed­er Beziehung, von Kun­stsinn ist auch fast keine Rede und statt Sinnlichkeit herrscht die Bestialität.

Da schloss er sich lieber zwei anderen Rev­oluzzern an, die er in Paris ken­nen­lernte: Oskar Paniz­za, der wegen seines The­ater­stücks “Das Liebeskonzil” ein Jahr in München inhaftiert wor­den war, und Frank Wedekind, dem Autor von “Früh­lingserwachen”.

Zurück in Zürich fand er eine Stelle als Assis­tent in ein­er pri­vat­en Irre­nanstalt in Kilch­berg, wech­selte aber bald nach Schaffhausen, um schliesslich als lei­t­en­der Arzt nach Kilch­berg zurück­zukehren. Doch schon nach zwei Jahren psy­chi­a­trisch­er Tätigkeit war Schluss: Brup­bach­er hat­te sich in der sozialdemokratis­chen Zeitung “Volk­srecht”, in dessen Auf­sicht­skom­mis­sion er inzwis­chen sass, für eine Verbesserung der Arbeits­be­din­gun­gen der Wärter einge­set­zt, — frist­lose Kündigung …
Sein Kom­men­tar: Ich bin fast froh, dass ich so mit Elan aus der Psy­chi­a­trie hin­aus­ge­wor­fen werde. Ich hätte son­st nie recht gewagt wegzuge­hen. Ich hätte zu stark an meinen Kranken gehangen und an der Psychopathologie.

Der Entscheid der ehren­werten Zürcher Pro­fes­soren, Brup­bach­er die Pro­mo­tion zum Dok­tor­ti­tel zu ver­weigern, hing nicht nur mit der oben beschriebe­nen Geschichte zusam­men, son­dern auch mit der Zeitschrift “Die Junge Schweiz”, die dieser während zweier Jahre (1899/1900) als Sprachrohr sein­er von ihm gegrün­de­ten “Schweiz­erischen anti­reak­tionären Gesellschaft” her­aus­gegeben hatte.
Die Radikalität, die ihn sein ganzes Leben begleit­en würde, und deren Wurzeln macht ein Pas­sus in sein­er Selb­st­bi­ogra­phie deut­lich, weshalb er hier etwas aus­führlich­er zitiert sei:
Die Auf­gabe der «Jun­gen Schweiz» war, die Jugend der Mit­telschulen und der Uni­ver­sitäten in Brand zu set­zen. Sie zu rev­o­lu­tion­ieren gegen Schule, Eltern und Vater­land. Ich träumte von ein­er Jugend, die sich rev­o­lu­tion­ieren ließ. … Mir schien, in dem Herzen eines jeden jun­gen Men­schen sei etwas, das sich empören müsse gegen die Verge­wal­ti­gung, die mit ihm vorgenom­men wurde, gegen die Dres­sur, der er unter­wor­fen wurde.

Wurde er denn nicht der Dres­sur unter­wor­fen? Und in wessen Namen wurde er der Dres­sur unter­wor­fen? In wessen Namen machte man aus ihm den Kon­fek­tion­s­men­schen und Spießbürg­er? Weshalb mußte er alles in sich verge­walti­gen, um ein renta­bles Wesen zu wer­den? Brauchte denn wirk­lich die Erwerb­smeta­physik den natür­lichen Men­schen aufzufressen? Sollte sie wirk­lich allein der Maßstab sein, an dem der Sinn des Men­schen­lebens gemessen wird? Soll­ten nicht der Hei­de und der Christ gemein­sam revoltieren gegen diese Verge­wal­ti­gung der Men­schenseele und der men­schlichen Triebe? Ist denn der Sinn der ganzen Kul­turgeschichte der, Geld zu sam­meln und ein Sklave des Gelder­werbs zu sein ? 

Meine «Junge Schweiz» sollte das Organ der Revolte gegen die Herrschaft des Gottes Mam­mon sein — über die freie Seele des Men­schen. Kampf um die Frei­heit der men­schlichen Entwick­lung. Kampf um die Frei­heit, aber auch Kampf für die Hingabe an die Frei­heit und nicht an den Mam­mon. Es schien mir, im Men­schen — und nicht bloß in einzel­nen, beson­ders fähi­gen Exem­plaren der Men­schheit — lebe nicht nur der Wille, Geld zu ver­di­enen, nicht nur der Wille, die ele­men­tar ani­malis­chen Triebe auszuleben, son­dern auch das, was wir im Neuen Tes­ta­ment und in Goethe, aber auch im eige­nen Herzen erlebt hat­ten — der Wille nach ein­er uni­versellen Ver­vol­lkomm­nung -, in einem dur­chaus mate­ri­al­is­tis­chen Sinn. 

Unsere­in­er war vielle­icht noch let­zter Nach­fol­ger jen­er rev­o­lu­tionären Bour­geoisie, die die heutige durch ihren Ide­al­is­mus zur Herrschaft gebracht hat­te. Unsere­in­er war vielle­icht wirk­lich ein Kind der franzö­sis­chen Enzyk­lopädis­ten und vom Griechen­tum und der Renais­sance und von all den Zeit­en, wo es neben dem Willen zum Fressen, Saufen und Huren und Schätze­sam­meln noch etwas anderes im Men­schen gab. Und dieses Etwas sollte die «Junge Schweiz» zur Schlacht gegen das mächtige Heer der Philis­ter und gegen die ver­rä­ter­ischen Schreibersee­len führen, die sich ihnen verkauft hat­ten und ihnen den Gefall­en tat­en, ihnen als Lehrer, Pro­fes­soren, Lit­er­at­en zu dienen.

So kämpfte die «Junge Schweiz» für die Reini­gung der Ide­olo­gie vom Mammonsherrschaftsgedanken.

In der näch­sten Folge wer­fen wir einen Blick in das Pro­gramm sein­er “anti­reak­tionären Gesellschaft” und ver­fol­gen seine ersten Schritte als Arbeit­er­arzt im Zürcher Ausser­sih­lquarti­er, — von ihm damals — heute völ­lig “anti-woke” — liebevoll “Neger”- oder “Indi­an­erdör­fli” genannt.

Dies wie immer am kom­menden Sam­stag, den 12. Februar.

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