Es ist inter­es­sant zu sehen, dass zwei wich­ti­ge anar­chis­ti­sche Den­ker — Eli­sée Reclus und Pjotr Kro­pot­kin — Geo­gra­phen waren:
“Die Beschäf­ti­gung mit den Land­schaf­ten der Erde in ihrer Man­nig­fal­tig­keit stand bei die­sen Anar­chis­ten in inni­ger Ver­bin­dung mit ihrer Auf­fas­sung von der mensch­li­chen Gesell­schaft. «L’‘homme et la terre» heisst ein unter Anar­chis­ten bekann­ter Buch­ti­tel Reclus. «Tier­ra y libertad! Land und Frei­heit!» war der Kampf­ruf latein­ame­ri­ka­ni­scher Revo­lu­tio­nä­re und der Name einer noch heu­te bestehen­den mexi­ka­ni­schen anar­chis­ti­schen Zeit­schrift. Die­se Lan­des­ver­bun­den­heit des Anar­chis­mus steht im Gegen­satz zum Mar­xis­mus, der in der Kon­zen­tra­ti­on der Men­schen in Indus­trie­städ­ten die Grund­be­din­gung zur Ver­wirk­li­chung einer bes­se­ren Gesell­schafts­ord­nung sah … Wäh­rend für den Mar­xis­ten wie für den Kapi­ta­lis­ten die Pro­duk­ti­on das ers­te und die Bedürf­nis­be­frie­di­gung das zwei­te ist, so ist für den Anar­chis­ten die Befrie­di­gung natür­li­cher und geis­ti­ger Bedürf­nis­se der Aus­gangs­punkt, dem sich die Pro­duk­ti­on unter­wor­fen hat. In unse­rer bür­ger­lich-mar­xis­ti­schen Gesell­schaft ist die Pro­duk­ti­on Selbst­zweck und muss, um funk­tio­nie­ren zu kön­nen, künst­li­che Bedürf­nis­se schaf­fen.

Viel­leicht ist dem geneig­ten Leser und der geneig­ten Lese­rin der Aus­druck “bür­ger­lich-mar­xis­ti-sche Gesell­schaft” auf­ge­fal­len. Das sieht wie schon bei “mar­xis­tisch-anar­chis­tisch” nach einem inhä­ren­ten Wider­spruch aus, ist es aber aus anar­chis­ti­scher Sicht nicht: Kom­mu­nis­ti­sche und kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaf­ten haben mehr Gemein­sam­kei­ten, als man­cher wahr haben will! Wel­che könn­ten es sein!?

Um das Wesen eine anar­chis­tisch auf­ge­bau­ten Gesell­schaft deut­lich zu machen, griff Koech­lin zu einem Bild: “So wie sich der Sied­lungs­raum auf­baut aus Tälern, Regio­nen, Län­dern und Kon­ti­nen­ten, so kon­sti­tu­iert sich die Gesell­schaft orga­nisch aus Gemein­den, Tal­schaf­ten und föde­rier­ten Völ­kern. Das anar­chis­ti­sche Gesell­schafts­bild ist kom­mu­na­lis­tisch, regio­na­lis­tisch und föde­ra­lis­tisch. Die Gesell­schaft ist, so schrieb Gus­tav Land­au­er im «Auf­ruf zum Sozia­lis­mus», eine «Gesell­schaft von Gesell­schaf­ten von Gesell­schaf­ten». Nur was sich auf natür­li­che, gewalt­lo­se Wei­se in frei­er Ver­ein­ba­rung zusam­men­fin­det, ist in den Augen des Anar­chis­ten gemein­schafts­bil­dend. Die Staa­ten ent­stan­den auf gewalt­sa­me Wei­se durch Erobe­rung und Unter­wer­fung des Schwä­che­ren durch den Stär­ke­ren. Nicht Ein­heit schafft der Staat nach anar­chis­ti­scher Auf­fas­sung, son­dern Zer­split­te­rung und Selbst­zer­stö­rung. … Wenn es in der Welt Kul­tur und Geist und Gerech­tig­keit gibt, dann nicht dank der Staa­ten, son­dern dank gesell­schaft­li­cher Ein­rich­tun­gen, die neben den Staa­ten, trotz der Staa­ten und über die Staa­ten hin­weg der Mensch­heit dienten.” 

Es wäre inter­es­sant, ein­mal nach­zu­prü­fen, inwie­fern die Ent­ste­hung der Schwei­ze­ri­schen Eid­ge­nos­sen­schaft die­sem Bild ent­spricht — oder nicht! Inter­es­sant auch, wenn Koech­lin die Idee anhand der  “Regio Basi­li­en­sis” zu illus­trie­ren ver­sucht: Um ein nahe­lie­gen­des Bei­spiel anzu­füh­ren, wäre die Schaf­fung einer Bas­ler Regi­on, die zwei natio­na­le und eine Kan­tons­gren­ze zu über­win­den hät­te — die Her­ren der „Regio“ mögen mir ver­zei­hen -, eine „anar­chis­ti­sche“ Tat. Den Regio­na­lis­mus inter­pre­tiert und will der Anar­chist nicht als beschränkt loka­lis­ti­sche Kirch­turm­po­li­tik oder als «Kan­tön­li­geist». Das Ziel des anar­chis­ti­schen Föde­ra­lis­mus ist uni­ver­sa­lis­tisch. «Auto­no­mie com­mu­na­le» und «Répu­bli­que uni­ver­sel­le» hies­sen die Losun­gen der Pari­ser Revo­lu­tio­nä­re von 1871. Das eine soll­te zum ande­ren füh­ren.

Koech­lin trat anschlies­send einem wei­te­ren Irr­tum ent­ge­gen: Dass näm­lich Anar­chis­ten der Mei­nung wären, die gros­se Frei­heit bre­che aus, sobald der Staat abge­schafft sei, — à la “Macht aus dem Staat Gur­ken­sa­lat!”, dann sind wir frei! Durch­aus nicht: “Wohl hat es anar­chis­ti­sche Uto­pis­ten gege­ben, die davon über­zeugt waren, dass das Macht­prin­zip im Men­schen mit der Unter­drü­ckung des Staa­tes zum Ver­schwin­den gebracht wer­den kön­ne. Doch fällt das Wesen des Anar­chis­mus nicht mit die­sem uto­pi­schen Glau­ben zusam­men. Den Anar­chis­ten kam es viel­mehr auf die Bewe­gung an, die «per­ma­nen­te Revo­lu­ti­on», in deren Unend­lich­keit sie eine Garan­tie für die Frei­heit erblick­ten. Sie folg­ten dar­in P.J.Proudhon, der im Gegen­satz zu Karl Marx an eine end­gül­ti­ge Über­win­dung der Wider­sprü­che, an eine letz­te Syn­the­se nicht glaub­te.” Das däm­mer­te Koech­lin nach dem zwei­ten Welt­krieg, als er nach dem Aus­blei­ben der end­gül­ti­gen Revo­lu­ti­on ernüch­tert fest­stell­te, dass “nur eine Ände­rung des Men­schen” die Poli­tik und damit die Welt ver­än­dern kann.

Ein wei­te­res ste­reo­ty­pes Bild, mit dem Koech­lin auf­räum­te, war der gott­lo­se Athe­is­mus im Anarchismus.

Es ist aller­dings wahr, dass es z.B. im “anar­chis­ti­schen Früh­ling” in Spa­ni­en 1936 von anar­chis­ti­scher Sei­te zu Ver­fol­gun­gen und sogar zu Hin­rich­tun­gen katho­li­scher Pries­ter kam. Das ist nicht zu ent­schul­di­gen, aber zu ver­ste­hen, wenn man weiss, dass sich die Katho­li­sche Kir­che in Spa­ni­en über Jahr­hun­der­te hin­weg immer auf die Sei­ten der Mäch­ti­gen und Unter­drü­cker gestellt hat­te. Auch ist es wahr, dass Proud­hon Gott als Übel bezeich­ne­te und Baku­nin sich vehe­ment gegen jeg­li­che reli­giö­se Got­tes­ver­eh­rung aussprach.

Die inter­es­san­te Fra­ge ist nun: Von wel­chem “Gott” spra­chen sie?
Koech­lin: “In die­sem Namen ver­kör­pert sich für den Anar­chis­ten das Prin­zip der Auto­ri­tät. Der sich befrei­en­de Mensch ver­neint Gott, weil Gott sei­ne Frei­heit ver­neint. Die­ser Gott ist das tran­szen­den­ta­le Vor­bild der Herr­schaft des Men­schen über den Men­schen. Er ist der Gott der kirch­li­chen Hier­ar­chie und des Staa­tes. Gegen die­sen Gott woll­te Baku­nin die Wis­sen­schaft ein­set­zen. Doch ver­wahr­te er sich gleich­zei­tig mit gros­ser Vehe­menz gegen eine Herr­schaft der Wis­sen­schaft, indem er sag­te, das Leben ste­he über jeder Wis­sen­schaft wie Gott-Vater über Gott-Sohn. Bemer­kens­wert scheint mir, dass der christ­li­che Reli­gi­ons­phi­lo­soph Niko­lai Ber­d­ja­jew den «all­mäch­ti­gen» Dik­ta­tor-Gott eben­so­sehr ver­ab­scheut hat wie sein „athe­is­ti­scher“ Lands­mann. Die­ser Gott ist in den Augen die­ses Chris­ten nicht wirk­lich tran­szen­dent, son­dern «sozio­mor­phes» Abbild des mensch­li­chen Macht­trie­bes. Von sei­nem Gott sag­te er, er habe weni­ger Macht als irgend­ein Poli­zist und sei nichts als Frei­heit.

Und Koech­lin fol­gert: “In die­ser Sicht wäre der anar­chis­ti­sche Anti­the­is­mus ein Kampf für Gott. … Prak­tisch hat der beton­te Athe­is­mus anar­chis­ti­scher Bewe­gun­gen sei­ne Wur­zel im har­ten Abwehr­kampf einer frei­heit­li­chen Bewe­gung gegen kle­ri­ka­len Aus­schliess­lich­keits­an­spruch. Der Athe­is­mus ent­sprach dem Anti­kle­ri­ka­lis­mus und nicht umge­kehrt der Anti­kle­ri­ka­lis­mus dem Atheismus.”
Hat er sich damit etwas gar weit aus dem Fens­ter gelehnt!? — Durch­aus nicht, aber um das zu erken­nen, muss man etwas hin­ter die Schlag­wor­te “reli­gi­ös” und “athe­is­tisch” gucken. Keh­ren wir noch­mals zum “anar­chis­ti­schen Früh­ling” zurück:
Der «comu­nis­mo liber­ta­rio», der auto­no­mis­tisch-föde­ra­lis­ti­sche Gemein­de­kom­mu­nis­mus der Spa­ni­er, hat sei­ne geis­tes­ge­schicht­li­che Wur­zel in einem christ­lich-mys­ti­schen Gemein­de­den­ken. Als im Jah­re 1936 in Bar­ce­lo­na die Kir­chen brann­ten, rief ein füh­ren­der Anar­chist in einer Mas­sen­ver­samm­lung vor revo­lu­tio­nä­ren Arbei­tern und Mili­zen aus: «Mys­ti­ker sind wir alle.» Dabei berief er sich auf die hei­li­ge The­re­sa von Avi­la und den indi­schen Mys­ti­ker Vive­ka­nan­da. Näher­lie­gend wäre viel­leicht Fran­cis­cus von Assi­si. Im Feuil­le­ton­teil einer spa­ni­schen anar­chis­ti­schen Zei­tung konn­te man eine Beschrei­bung des Him­mels lesen. Freund­schaft­lich unter­hält sich hier Fran­zis­cus mit Peter Kro­pot­kin, wäh­rend sich, abseits von ihnen, Lenin, Cal­vin und Tor­que­ma­da die Hand reichen.”

Der deut­sche Anar­chist Gus­tav Land­au­er, der 1919 in Mün­chen von Frei­korps­sol­da­ten gefol­tert und dann erschos­sen wur­de, beschäf­tig­te sich inten­siv mit dem gros­sen Mys­ti­ker Meis­ter Eck­hart . Proud­hon sei­ner­seits bezeich­ne­te sich als Schü­ler Blai­se Pas­cals. Doch nicht nur das. Koech­lin erkann­te, dass alle mit­tel­al­ter­li­chen und refor­ma­to­ri­schen mys­ti­schen und gnos­ti­schen Strö­mun­gen — z.B. die Bogo­mi­lenKatha­rer, Wal­den­ser, Begi­nen und Begar­den — ihrem Wesen nach anar­chis­ti­sche Gemein­schaf­ten waren. Und so wag­te er eine Behaup­tung, die vie­len Lin­ken — Kom­mu­nis­ten, Anar­chis­ten und 68ern — in den fal­schen Hals geriet:
“Obwohl ich Gefahr lau­fe, von Anar­chis­ten gestei­nigt zu wer­den, wage ich die Behaup­tung, dass die Grund­hal­tung alles ech­ten Anar­chis­mus reli­gi­ös sei.” Albert Camus hät­te verstanden.

In der drit­ten Fol­ge zu Koech­lins Arti­kel gehen wir unter ande­rem sei­ner Fra­ge nach, inwie­fern anar­chis­ti­sches Gedan­ken­gut heu­te im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung über­haupt noch eine Chan­ce hat, sich in irgend­ei­ner Form zu verwirklichen.

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