“Wir erleben heute eine Niederlage des Faschismus und der Sozialdemokratie … Das Kräfteverhältnis zwischen Revolution und Konterrevolution ändert sich nach wie vor unaufhaltsam zugunsten der Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen Avantgarde”, schrieb die deutsche kommunistische Zeitschrift “Internationale” am 15. Dezember 1932. 45 Tage später war Hitler an der Macht.
Zwei Jahre später schrieb ein resignierter Fritz Brupbacher am Ende seiner Memoiren:
Jetzt lebe ich am Waldrand mit meiner Kameradin Paulette, und von da machen wir Ausflüge in den Beruf und in die nähere und weitere Welt. Und ich weiß nicht genau, was weiter werden soll. … Unterdessen verdaut man weiter das Leben.
Doch Brupbacher blieb Brupbacher, denn der letzte Satz lautet:
Darum scheint es mir, ich hätte meine Lebensgeschichte geschrieben, um sie zu vergessen, und das Leben ganz von neuem wieder zu. beginnen, als echter “Revolutionär in Permanenz”.
Dieser Revolutionär sass nun definitiv zwischen allen Stühlen, — und gab trotzdem nicht auf.
Er träumte von einer lose organisierten und mehr oder weniger im Untergrund wirkenden Gruppe, “eine geheime Sekte ohne Haupt und ohne Regeln und ohne Disziplin”.
Über das Programm dieser losen Organisation heisst es … in seinem Tagebuch: “Wir sind das Chaos, der Elan, der Traum, und können an irgendeiner Stelle uns verleiblichen, wie die griechischen Götter zeitweise in Regen oder in Ochsen oder in Politiker uns verwandeln. Unser Programm besteht einfach darin, Menschen aufzurütteln und sie aufzureizen, zu werden, was sie sind, sich zu finden und sich zu verschenken.” Die Sekte sollte also nichts anderes sein als der aktuelle Träger des anarchistischen Prinzips, wie es Brupbacher verstand. Dass es zur Zeit im geheimen wirken muss, ist die bedauerliche Konsequenz der Weltlage, wo im Kapitalismus, Faschismus und Bolschewismus die autoritären Kräfte dominieren. Aber Brupbacher gibt sich optimistisch, ist überzeugt oder hofft wenigstens, dass das anarchistische Grundprinzip, die Selbstverwirklichung des Menschen im Denken und Handeln, auch unter diesen besonders widrigen Umständen nicht untergehen werde. (…)
Inwiefern ist aus diesen Plänen Wirklichkeit geworden? Hat die Sekte je irgendeine Tätigkeit entfaltet? Bei diesen Fragen muss man sich vergegenwärtigen, dass es Brupbacher dabei mehr um eine Geisteshaltung ging als um eine Organisation mit Statuten, eingeschriebenen Mitgliedern und irgendwelchen Funktionären. Fest steht, dass er selbst in diesen Jahren in teilweise intensivem Kontakt stand mit einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten und Organisationen. Ob seine Partner jeweils Kenntnis hatten von der Konzeption der Sekte, lässt sich heute nicht mehr ausmachen. Sicher jedoch war ihnen allen ein Humanismus im Brupbacherschen Sinne eigen, der Wille, den Menschen zu befreien von innern und äussern Zwängen. (Karl Lang, Brupbacher)
In diesen letzten Jahren kam es zu einem intensiven Gedankenaustausch mit Max Nettlau, dem wichtigen Historiker des Anarchismus. Immer, wenn Nettlau nach Barcelona reiste, um den spanischen Anarchismus an Ort und Stelle zu studieren, besuchte er regelmässig Brupbacher in Zürich. Gemeinsam publizierten die beiden in Paris die “Beichte” Bakunins, eine Bittschrift die er 1857 aus dem Gefängnis an den Zaren gerichtet hatte.
Und dann war da noch der “Donnerstagsklub” in einem Saal des Zürcher Hauptbahnhofs. Ein befreundeter Schriftsteller schilderte die Treffen so:
Man traf da die wunderlichsten Leute, Patienten, ehemalige Revolutionäre, resignierte Frauenrechtlerinnen, enttäuschte Kommunisten, halb verblichene Anarchisten, die wie alte Eulen aus fernen Wäldern wirkten … Für Brubacher waren das alles Menschen, wenn nur in ihrem Herzen die Sehnsucht lebte und in ihren Köpfen sich einige Gedanken regten. Er war ihr Arzt und Seelenhygieniker, ihr Tröster und Erzieher. Gern hätte er ihnen aus der Welt eine wohnlichere Stätte gemacht, musste aber stets einsehen, dass dies äusserst schwer war.
Und sein Biograf Karl Lang ergänzt:
Andere Menschen hinzuführen zu diesem Spass am Denken, das war ein Hauptmotiv seiner zahlreichen Zirkel und Kurse, die er mit Unterbrüchen und in verschiedener Gestalt immer wieder begründete und leitete, von der Antimilitaristischen Liga bis zum Donnerstagsklub. Stets ging es um die Vergrösserung der dünnen, aber für die gesellschaftliche Entwicklung entscheidenden Schicht der “Bernhardinerhunde”, jener besonderen Menschen, die “für das Wahre, Gute und Schöne, die Objektivität und Hingabe” lebten und die sich zur Wehr setzten gegen die “hundsgemeinen Köter”, jene Mehrheit in allen Klassen, die Durchschnittsmenschen, “die alles treiben, um für sich Gewinn und Macht herauszuschlagen”.
In seiner letzten, erst nach seinem Tod am 1. Januar 1945 erschienenen Publikation “Der Sinn des Lebens” schrieb Brupbacher:
Zumeist frägt man nicht nach dem Sinn des Lebens. Die Zwecke werden uns fertig überliefert durch Eltern, Pfleger, Schule, Kirche, Parteien. Wir werden hineingeboren in ein fertiges Gehäuse von Traditionen, Weltanschauungen. Sie enthalten das Ziel und die Regeln des Lebens, enthalten die Ideale, nach denen wir uns richten. Erst wenn die Welt in allen Fugen kracht, erst wenn der von der Tradition festgesetzte Sinn des Lebens in Widerspruch gerät mit unserem Wesen, fragen wir: Welches ist denn der Zweck unseres Lebens?”
Seine persönliche Antwort hat er in der Vorrede zu seinem 1943 erschienenen Buch “Seelenhygiene für gesunde Heiden” gegeben. Ihr ist die letzte Folge zu diesem unermüdlichen Kämpfer für eine gerechtere und menschlichere Welt gewidmet, — und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 22. Oktober.
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