Die folgenden Jahre wurden für Fritz Brupbacher zu einem einzigen grossen Drama. Immer noch Revolutionär mit Leib und Seele, immer noch hoffend, dass mit der neuen Sowjetunion die ersten Schritte für die grosse Weltrevolution hin zu einer neuen sozial gerechten Gesellschaft getan seien, engagierte er sich in der Kommunistischen Partei der Schweiz. Dort, wo er mit deren Politik und Doktrin nicht einverstanden war, hielt er den Mund und behielt seine Kritik und seine Fragen für sich. Schonungslos offen analysierte er die Situation in seiner Autobiografie:
Während ich auch als Parteikommunist brav meine Arbeit tat, so dass ein aufmerksamer Beobachter gar nichts Unparteimässiges an mir bemerkt hätte, als eine gewisse Intelligenz, tummelte sich allerlei in mir hinter den Kulissen. Meine mangelnde Orthodoxie äusserste sich vor allem darin, dass ich mit einer gewissen Absicht meine Parteifrömmigkeit zu steigern suchte. Ich fasste meine mangelnde innere Linientreue als eine Art individualistischer Revolte auf und fand, ich sollte das Kollektiv und die Kollektivassoziation in meinem Hirn etwas besser ausbilden. Zu diesem Zwecke las ich täglich ein paar Kapitel aus unserem “Kirchengesangbuch”, dem Parteiprogrammentwurf, gab mir alle Mühe, mich mit dem Proletariat zu identifizieren — was doch zum Vollkommenheitsideals eines Katholiken gehört — und suchte mein ganzes Wesen mit Kommunismus zu durchdringen. Dadurch vergewaltigte ich mich noch mehr …
In der Broschüre “Wo ist der Sitz der Seele?” forschte er — selbstverständlich auf materialistischer Grundlage — nach den Qualitäten, die einen wahren Kommunisten ausmachen würden: Opfermut, die Fähigkeit, objektiv — und vor allem selber — zu denken, die Fähigkeit, im Kollektiv aufzugehen, die Erkenntnisfähigkeit, die Güte, den Sinn für Wahrhaftigkeit.
Darin habe eben die grosse Freude des Kommunisten zu bestehen, und das nenne man Kultur. Kultur sei die Entwicklung nötiger Eigenschaften über das Nützliche hinaus.
Ungebrochen war sein Wille, andere Menschen zu ihrer eigenen inneren Freiheit zu führen:
Man hat mich oft einen Anarchisten genannt, und ich habe gewiss zeitlebens eine starke freiheitliche Ader gehabt. Aber der Drang nach Freiheit war nur ein Teil meines Wesens. Ich war noch allerlei anderes als Anarchist. Ich war auch dafür, dass man die Menschen aufreizen müsse, “sich selber” zu sein. Wollte ihnen also nicht alle Freiheit lassen, vor allem nicht die Freiheit, unfrei zu sein. Und so war ich mehr als nur ein Anarchist, mehr als einer, der den Menschen ihren Willen lässt.
Ich wusste auch sehr gut, dass die Menschen nicht nur das Bedürfnis haben, keinen Herrn zu haben, sondern noch ein viel stärkeres, einen Herrn und einen möglichst strengen Herrn zu haben. Und das wollte ich ihnen abgewöhnen. Ich wollte, sie sollen selber ihr Herr sein. Und das war wieder eine Art Anarchismus. Feldwebelanarchismus, weil ich die Menschen zwingen wollte, frei zu sein, keinen Herrn haben zu wollen.
Mit dieser Haltung stand er allerdings so quer wie nur möglich in der kommunistischen Parteilandschaft:
Das, was die Politiker den “wissenschaftlichen Sozialismus” nannten, die Texte von Marx und Engels, wurde in der Partei gleich behandelt, wie in der katholischen Kirche die Bibel, und die Beschlüsse der Konzilien entsprachen den Leitsätzen und Beschlüssen der Kominternkongresse. Beide waren gleich undiskutierbare Offenbarungen. Man kann sagen, der Marxismus war eine Offenbarungsreligion. Jedes Kritisieren oder Ergänzenwollen der heiligen Schriften galt als Ketzerei. Marx und Engels wurden die Gesetze des historischen Geschehens offenbart, und es war nicht mehr gestattet, die Historie anzuschauen ausser durch die Brille des Marx-Engelschen Offenbarungsglaubens. (…)
Der Verstand durfte nur angewendet werden, um den Proleten die Offenbarungsreligion beizubringen. Eine andere Aufgabe hatte der Verstand nicht. Kam einem etwas Neues in den Sinn, so musste man, bevor man es aussprach, Stellen ausfindig machen bei den Heiligen oder in den marxistischen Kirchenvätern, und musste das Neue dann sagen, als ob es ein Altes wäre, mit den Worten, die man in Marx-Engels fand. … Statt einer verstandesmässigen Begründung sagte man einfach “Marx hat gesagt”, oder “Was würde Marx hierzu gesagt haben?” (…)
Kirchlich gesprochen, die Partei forderte die unbedingte Unterwürfigkeit unter die Norm und Autorität der Heiligen Schrift und der Kirchenväter.
Und so prägte Brupbacher in Anlehnung an die unantastbare Glaubensdoktrin der mittelalterlichen Kirche den Begriff des “Kapolizismus”.
Das Wesen der KP Schweiz auf solch kritische Weise zu analysieren und trotzdem Mitglied bleiben zu wollen, konnte nicht gut gehen. Und es ging nicht gut.
Dazu mehr in der nächsten Folge am Samstag, den 24. September.
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