Die Vorwürfe, wie sie im Pamphlet Maximilians I. geäussert wurden, waren auch schon vorher durchaus vorhanden. So liess der Zürcher Chorherr Felix Hemmerli im “Dialogus de Nobilitate et Rusticitate” den “Nobilis” gegen den “Rusticus”, den aufrührerischen Bauern, antreten:
Nach Hemmerli haben sich die Schweizer gegen die Ordnung der christlichen Gesellschaft erhoben durch ihren Bund, der sich gegen ihre “domini naturales”, ihre natürlichen Herren, die Adeligen, richte. Alle, die dieser verdorbenen Eidgenossenschaft anhingen, seien verdammt. Aber es sei zu hoffen — Hemmerlis Nobilis ist versöhnlich gestimmt -, dass die Eidgenossen mit Hilfe Gottes und der Natur wieder bekehrt würden “ad humanitatis Grades” — also: zu einem dem Menschsein entsprechenden Verhalten, zur Menschenwürde. Nichts weniger! So erscheinen bei Hemmerli die Eidgenossen durch ihre Perversion der christlichen Ordnung geradezu ausgeschlossen von der Würde des Menschseins. Diese furchtbare Erkenntnis erschüttert den Rusticus zutiefst. Er bekehrt sich und will fortan dem Adel dienen. (Guy P. Marchal)
Leider zerplatzte dieser Wunschtraum Hemmerlis wie ein Seifenblase: Er wurde von den Eidgenossen im Alten Zürichkrieg gefangengenommen, zu lebenslanger Haft verurteilt und starb als Gefangener im Franziskanerkloster Luzerns.
Wie aber wehrt man sich gegen den Vorwurf, die von Gott gewollte Gesellschaftsordnung mutwillig zu zerstören?
Guy P. Marchal hat die Volkslieder, Volksschauspiele und Streitschriften jener Zeit untersucht. Und deren Fazit ist eindeutig: Nicht die Eidgenossen seien die Zerstörer der wahren göttlichen Ordnung, sondern der Adel: Es ist der Adel, der durch seine Pflichtvergessenheit und Untreue seine Standesaufgaben nicht erfüllte, weshalb ihn die Eidgenossen ersetzen. … Ein neuer, von seinesgleichen im Reich sehr verschiedener Bauerntyp tritt nun hervor: Selbstsicher, tapfer und tugendhaft, ein Held, der es mit den Rittern im Kampf aufnimmt, so liebt sich nun der Schweizer zu sehen.
Diese elegante Rechtfertigung zeigt sich zum Beispiel im “Spiel von den alten und jungen Eidgenossen”, das im Neujahr 1514 in Zürich aufgeführt wurde. Auch da tritt der “Nobilis” gegen den “Rusticus” an. Der Nobilis: Der adel kumpt von der tugent har, darumb mund ihr buren bliben gar! Doch der Rusticus ist diesmal nicht aufs Maul gefallen: Der adel von der burscheit thuot entspringen, wann die buren thünd nach der tugent ringen … die tugent thuond zuo aller zytt, das selb sind mir recht edellüt. Und dann stellt er keck die Ordnung auf den Kopf: … edellüt sind buren worden und die buren edellütt … Die Schwizer sind die rechten edellütt: ir Tugend inen den adel vorussgitt.
Marchal: Auf der Grundlage des Tugendbegriffs hat sich in den beiden Dialogen zwischen dem Nobilis und dem Rusticus die Lage fundamental verändert: Nicht mehr der Bauer ist es, der die Standesordnung pervertiert hat, sondern der pflichtvergessene Adel. … So hat das Ausscheiden des Adels, das sich im Bereich der Eidgenossenschaft … effektiv vollzogen hat, bei den Eidgenossen eine Erklärung gefunden, die in heilsgeschichtliche Dimensionen ausgreift: Bei ihnen hat der von Gott gegeben Ordo der Christenheit eine Umkehr erfahren. In die Funktion der pflichtvergessenen milites sind die tugendhaften laboratores gerückt.
Interessant ist, dass sich auch die Stadtbürger durchaus mit dem Begriff der “laboratores” zu identifizieren begannen. Als einigen Baslern, die 1445 ja noch nicht zur Eidgenossenschaft gehörten, in einem Breisgauer Dorf das antischweizerische Schimpfwort “Kügstricher” nachgerufen wurde, notierte ein Chronist: “hatten geseit “kügstricher”, do muost es brennen.”
Das neue Selbstbewusstsein zeigte sich im Schwabenkrieg nach der Schlacht bei Dornach ganz konkret: Die Eidgenossen verweigerten die Auslieferung der gefallenen Adeligen an die Angehörigen und bestatteten sie zusammen mit anderen Gefallenen in der Dorfkirche von Dornach.
Ein anderes Detail lässt uns noch etwas tiefer zu einer starken Wurzel für dieses Selbstbewusstsein vordringen. Im Schwabenkrieg, aber auch schon seit dem 14. Jahrhundert, hefteten sich die Schweizer Krieger nämlich ein Symbol der Thebäischen Legion als religiös-magisches Schutzzeichen an die Wämser und auf ihre Banner: ein weisses Kreuz im roten Feld …
Wem die “Thebäische Legion” nicht viel sagt: Gemäss einem erstmals durch Bf. Eucherius von Lyon überlieferten Passionsbericht (um 440) soll eine röm. Legion von Soldaten christl. Glaubens um 300 bei Acaunum (Saint-Maurice) den Märtyrertod erlitten haben. Thebäer wurden sie genannt, weil sie in der ägypt. Landschaft Thebais rekrutiert worden waren. Die Legionäre hätten sich geweigert, an Christenverfolgungen und heidn. Kulthandlungen teilzunehmen. (Historisches Lexikon der Schweiz).
Welch grosse Rolle die religiöse Dimension in der Auseinandersetzung um die “gottgewollte Ordnung” in der Gesellschaft tatsächlich spielte, werden wir in der nächsten Folge am 9. September untersuchen.
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