Wer war Jeshua ben Joseph / Jesus Christus?
Es wäre natürlich eine absolute Hybris, hier eine Antwort geben zu wollen. Die Vorschläge der Kirchenväter, Theologen, Historiker, Philosophen und anderen ‑ogen, ‑ikern und ‑ophen füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Walter Nigg** seinerseits stellt nüchtern fest: Freilich erfuhren wenige Persönlichkeiten eine solche Übermalung bis zur Unkenntlichkeit wie Jesus. Er ist die misshandeltste Gestalt der Weltgeschichte, die noch nach dem Tode eine zweite Passion durchmachen musste. Um Jesus in dem ihm allein entsprechenden Lichte zu sehen, ist es notwendig, sich entschieden von der traditionellen Vorstellung zu befreien. Das süsslich-weiche Wesen, in das ihn eine kleinbürgerliche Kunst eingehüllt hat, muss restlos abgestreift werden. Für den, der Jesus in dem langweiligen Schema der kirchlichen Überlieferung in sich aufgenommen hat, ist die Umstellung allerdings sehr schwer. Und doch hängt alles davon ab, ob man Leben und Lehre Jesu wieder gross und mit jener unmittelbaren Frische zu schauen vermag, als begegnete sie einem zum erstenmal.
Eine eindrückliche Bestätigung für diese Behauptung Niggs fand der birsfaelder.li-Schreiberling vor einiger Zeit anlässlich der Lektüre der Biographie von Alfons Rosenberg, Spross einer gut situierten und in die deutsche Kultur integrierten jüdischen Familie. Rosenberg war aufgeweckt und künstlerisch ausserordentlich begabt. Er erlebte die politischen Wirren in München nach dem 1. WK hautnah mit, engagierte sich in der Räteregierung und war direkter Augenzeuge der Ermordung von Kurt Eisner, den er zutiefst bewundert und verehrt hatte.
Er schlug eine künstlerische Laufbahn als Maler ein und befreundete sich mit Paul Klee und anderen Expressionisten. Schliesslich zog er sich auf Einladung eines Freundes für ein paar Jahre auf eine kleine Insel im Wörthsee zurück, wo er als Bauer lebte, malte und meditierte. Zusammen mit der Familie des Freundes residierte er in einem kleinen, verfallenen Schlösschen. Eines Tages stöberte er in einem Schutthaufen eines Saales und entdeckte dort ein übel mitgenommenes Buch: die Evangelien. Er nahm es mit in sein Zimmer und las im Lichte einer Kerze die ganze Nacht hindurch. Die Erfahrung dabei veränderte sein Leben:
… aus diesen knappen Texten, Berichten und Predigten wuchs mir von Stunde zu Stunde mehr eine Gestalt empor, die mich zuerst mit immer größerem Staunen dann mit einem Übermaß an Liebe erfüllte: Jesus, der Fremde der unsäglich Nahe. Damals wußte ich glücklicherweise noch nichts von christlichen Glaubenssätzen und Dogmen, von den Kleidern, in welche Theologen und Gläubige im Laufe der Jahrhunderte Jesus eingehüllt hatten. Gerade darum war es möglich, daß mir aus den Evangelien beim ersten Lesen eine ungeheure Feuerflamme entgegenschlug: ohne menschliche Umrisse, Urgestalt vor jedem Namen, Einheit vor aller Teilung. Diese Erfahrung Jesu als ein niederzuckendes, auf Erden brennendes Feuer blieb mir seitdem Maßstab für alles, was Jesus betrifft. An diesem Feuer maß ich alles, was ich erfuhr und was mir die Wissenden und Forschenden berichteten. In den Stunden einer Nacht hat sich mir Jesus durch sein Evangelium ohne historisches Beiwerk als Feuersäule geoffenbart. Damals habe ich unverlierbar erfahren, was Geist und Feuer ist, und wenn ich das mir Geschehene mit einer Situation des Evangeliums identifizieren wollte, so müsste ich sagen: In jener Nacht habe ich die Feuertaufe empfangen. (aus: Die Welt im Feuer. Wandlungen meines Lebens.)
Rosenberg erzählte niemandem etwas von dieser Erfahrung, aber er begann, sich theologische Fachliteratur zu besorgen, — nur um festzustellen, dass sich für ihn die Auseinandersetzung mit der dogmatischen christlichen Theologie absolut negativ auswirkte. Einen eigentlichen Rettungsanker fand er schliesslich nach seiner Emigration in die Schweiz im Eranos-Kreis, wo er sich mit Koryphäen wie C.G. Jung, Mircea Eliade oder Martin Buber austauschen konnte und dort eine neue geistige Heimat fand.
Doch wenden wir uns erneut Walter Nigg zu:
Das Einzigartige und Überragende am jungen Christentum ist die Gestalt Jesu. Es gibt keine Persönlichkeit, die sich an elementarer Wirkung mit ihm vergleichen liesse. Er war der fruchtbarste Mensch, der je über diese Erde geschritten ist. Jesus Christus wurde das Schicksal des Abendlandes. Bis zum heutigen Tag steht diese Entwicklung in seinem Schatten. Auch dort, wo das abendländische Denken in der Neuzeit antichristliche Wege geht, geschieht dies in bewusster Auseinandersetzung mit ihm. … Das magische Leuchten seiner Erscheinung kann mit historischen Begriffen nie eingefangen werden. Der Unergründlichkeit seines Wesens vermag keine Darstellung gerecht zu werden. Was man auch sagen mag, es ist alles zum voraus unzureichend.
Was war denn nun seine zentrale Botschaft während des kurzen dreijährigen Wirkens? Es ist laut Nigg die Verkündigung des Reiches Gottes, im Hier und Jetzt! (Lukas 17:21)
Im Grunde hat Jesus nicht vieles, sondern immer nur eines gesagt. Dieses Eine, das durch alle seine Worte hindurchgeht, muss in den Mittelpunkt gestellt werden, von dem aus all die mannigfachen Gleichnisse und Sprüche zu verstehen sind. Jede Jesus-Auffassung, die nicht zu dieser Einheit vordringt, bleibt an der Peripherie hängen … Mit einer schlechterdings nicht mehr zu überbietenden Kraft hat Jesus den Menschen aller Zeiten gesagt, dass das Reich und nur das Reich allein von ausschlaggebender Wichtigkeit ist. Im Inhalt dieser Botschaft liegt seine zeitlose Grösse.
Moment mal, — Reich Gottes, im Hier und Jetzt!? Angesichts der heutigen Weltlage!?
Fabian Scheidler bringt die aktuelle Situation auf den Punkt, wenn er in der Einleitung zu seinem Buch “Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen” schreibt:
Am 25. Januar 2017, wenige Tage nach der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump, geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Der Dow Jones Index der New Yorker Börse erreichte unter dem Jubel der Anleger erstmals die Schwelle von 20.000 Punkten. Zugleich rückten die Zeiger der »Weltuntergangsuhr« (»Doomsday Clock«) auf zweieinhalb Minuten vor zwölf – und damit so nah an Mitternacht heran, wie seit dem Zünden der ersten US-Wasserstoffbombe 1953 nicht mehr. Die Uhr spiegelt die Einschätzungen führender Nuklear- und Umweltwissenschaftler über die Gefahren von Atomkrieg, Klimachaos und Risikotechnologien wider.
Der Freudentaumel der Anleger und die nahende Mitternacht für die Menschheit: Deutlicher lässt sich die Tatsache, dass sich unser Wirtschaftssystem auf Crashkurs mit dem Planeten und seinen Bewohnern befindet, kaum ausdrücken. Was die Börse feiert, ist unser Verderben. Das Ergebnis dieses Zusammenpralls ist wachsendes globales Chaos auf allen Ebenen: in der Politik, in der Wirtschaft, in unseren Köpfen und in den natürlichen lebenserhaltenden Systemen.
Wie lässt sich das mit der Aussage Jeshuas vereinbaren?
Vielleicht hängt alles davon ab, wie wir sie interpretieren …
Darüber mehr am kommenden Freitag, den 29. Oktober.
** Walter Nigg (1903 — 1988) war ein evangelischer Theologe, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich und Autor von 60 Büchern. Hier eine kleine Auswahl:
Leider ist der temperamentvolle Schriftsteller inzwischen etwas in Vergessenheit geraten, — völlig zu Unrecht: Seine Bücher sind höchst anregend, gerade auch, wenn er sich mit “Ketzern” und “Grossen Unheiligen” auseinandersetzt. Höchst lesenswert!
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