Im Jahre 1894 erschien in Deutschland ein Buch des grossen russischen Schriftstellers Leo Tolstoi mit dem Titel “Das Reich Gottes ist inwendig in euch, oder das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als eine mystische Lehre”. Dessen Veröffentlichung war in Russland verboten worden, — offensichtlich zu revolutionär für Staat und orthodoxe Kirche:
Was die Kirche als Christi Lehren predigt, ist nicht Christi Lehre. Christus hat nie an eine Organisation gedacht, wie es die Kirche ist, und nie mystischer Behelfe bedurft. Was er lehrt, ist dazu bestimmt, ein Zusammenleben der Menschen herzustellen, in dem die Gesamtheit wie der Einzelne das höchste Mass von Glückseligkeit geniesst. Von diesem Ziel ist das von Fürsten und Priestern aus Herrschsucht geschaffene Christentum ganz und gar abgewichen. Christi Lehre ist in ihr Gegenteil verkehrt. Überall herrscht die Gewalt, während Christi erste und höchste Lehre die Verleugnung aller Gewalt ist …
Wenn alle, die sich heute mit Unrecht Christen nennen, von dem Geiste des reinen Evangeliums erfüllt sein werden, wenn sie die Worte Christi nicht auslegen werden, wie es ihr Vorteil lehrt, werden alle Ungerechtigkeiten unseres gegenwärtigen Zusammenlebens von selbst, ohne gewaltsamen Umsturz, schwinden. Der Hass des Einzelnen gegen den Einzelnen wird keine Nahrung mehr finden, die Völker werden sich nicht wie Feinde gegenüber stehen, und der ewige Friede wird das sein, ohne Beratungen und Kongresse, ohne völkerrechtliche Betrachtungen und ohne Friedensgerichte. Denn das Reich Gottes, das Christus gelehrt hat, ist inwendig in den Menschen …
So geschrieben im Vorwort zur Ausgabe 1911. Wenige Jahre später versanken Russland und das restliche Europa in einer Orgie der Gewalt:
● 1917 kam es in Russland zu einem gewaltsamen Umsturz, der Russischen Revolution, gefolgt von einem jahrelangen brutalen Bürgerkrieg, der wegen einer zusätzlichen Hungersnot zwischen 8 und 10 Millionen Todesopfer forderte. Gefolgt vom “Grossen Terror” der repressiven Stalin-Aera.
● 1914 ging das alte Europa im Schrecken des ersten Weltkriegs unter, der von den damaligen Grossmächten leichtfertig angezettelt worden war: weitere 9 Millionen Tote.
Hatte Tolstoi mit seiner radikalen Auffassung also recht? Hat Walter Nigg recht, wenn er schreibt:
Freilich erfuhren wenige Persönlichkeiten eine solche Übermalung bis zur Unkenntlichkeit wie Jesus. Er ist die misshandeltste Gestalt der Weltgeschichte, die noch nach dem Tode eine zweite Passion durchmachen musste.
Der entscheidende Knackpunkt ist offensichtlich die Frage, was denn unter dem “Reich Gottes in uns” zu verstehen sei. Und die Frage, welche Rolle Jeshua ben Joseph, der sich zu Jesus Christus wandelte, dabei spielt.
Damit sind wir schon mitten in einer dornenvollen Auseinandersetzung. Worin könnte denn die Übermalung bis zur Unkenntlichkeit seiner Gestalt bestehen?
● Ist es das seit frühester Zeit im Christentum gepredigte Dogma, Jesus habe am Kreuz den Opfertod für die in einer Ursünde gefangenen Menschheit auf sich genommen, indem er den Zorn Gottes auf diese Menschheit auf sich lud?
● Ist es das Dogma, es genüge an Jesus Christus zu glauben, um der ewigen Seligkeit nach dem Tode teilhaftig zu werden?
● Ist es das Dogma, das Reich Gottes sei in den vielen christlichen Kirchen schon gegenwärtig?
● Ist es das Dogma, Jesus sei der “einzige Sohn Gottes”?
● Ist es das Dogma, die vielen sich konkurrenzierenden christlichen Glaubensbekenntnisse hätten allein den Schlüssel für die selig machende göttliche Wahrheit?
Oder noch radikaler:
● Ist es das Dogma, dass das Christentum, wie es sich über zwei Jahrtausende entwickelt hat, alleine das Monopol auf “die frohe Botschaft” — das Evangelium — besitzt?
Einer, der all dies bejaht, ist Konrad Dietzfelbinger, Autor einer ganzen Reihe von Werken, die sich u.a. mit der Frage auseinandersetzen, wann, wie und warum die “frohe Botschaft” Jeshuas, dass das Reich Gottes in uns ist, schon sehr bald nicht mehr verstanden und im Laufe der Jahrhunderte von den Kirchen mehr als einmal sogar in ihr Gegenteil verwandelt wurde. Eines seiner Bücher trägt den Titel: Fall und Auferstehung des Christentums, in dem er die These vertritt, dass es heute von überlebenswichtiger Bedeutung geworden ist, diese Aussage Jeshuas endlich richtig zu verstehen. Und sie kann gemäss Dietzfelbinger nur verstanden werden, wenn wir uns von den oben aufgeführten tief in unserem Unterbewusstsein verankerten Dogmen lösen.
Dabei bezieht er sich unter anderem — horribile dictu — auf die Tradition der christlichen Gnosis, die von der sich im 2. und 3. Jahrhundert etablierenden “offiziellen” Kirche so massiv verfolgt und bekämpft wurde, dass wir erst sei der Entdeckung der Schriften von Nag Hammadi 1945 wieder etwas genauer wissen, was diese christlichen Gnostiker damals lehrten. Und siehe da: Im “Lied von der Perle” aus Syrien — einige der wenigen schon früher bekannten gnostischen Schriften — spielt “das Königreich in uns” eine zentrale Rolle.
Für Dietzfelbinger ist es auch unabdingbar, sich mit dem Gedanken der Reinkarnation vertraut zu machen. Warum?
Weil wir den Zugang zu diesem “Königreich in uns” nie durch einen äusserlichen dogmatischen Glauben finden, sondern im Laufe eines langen inneren Entwicklungswegs, der nur in den wenigsten Fällen innerhalb eines einzigen Erdenlebens abgeschlossen werden kann.
Dass die Reinkarnationsidee im frühen Christentum noch lebendig war, zeigt sich an dieser Aussage des Kirchenvaters Origines (185–254 n.Chr.):
„Die Präexistenz der Seele ist immateriell, deshalb hat sie weder Anfang noch Ende. Die Vorhersagen der Evangelien sind nicht geschrieben worden, um wörtlich interpretiert zu werden. Es gibt einen ständigen Prozess hin zur Vollkommenheit. Alle Geister sind ohne Schuld geschöpft worden und alle müssen zum Schluss zur ursprünglichen Vollkommenheit zurückkehren. Die Erziehung der Seelen setzt sich in nachfolgenden Welten fort. Die Seele inkarniert und erfährt den Tod oft. Die Körper sind wie Becher für die Seele: Die Seele muss sie nach und nach, Leben für Leben, auffüllen. Erst der Becher aus Ton, dann der Becher aus Holz, dann aus Glas und zuletzt aus Silber und Gold“.
Aber Origines wurde bekanntlich im Jahre 543 zum Ketzer erklärt, — durch den römischen Kaiser Justinian!
Der Versuch, das “Reich Gottes auf Erden” im Äusseren Wirklichkeit werden zu lassen, — sei es in christlicher, kommunistischer oder nationalsozialistischer Variante -, scheiterte jedesmal krachend und hinterliess Tod, Verwüstung und Desillusion.
Es lohnt sich deshalb, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das “Reich Gottes in uns” vielleicht die Potenz hat, die Menschheit aus einer jahrtausendealten Sackgasse herauszuführen. Und genau das tun wir
am kommenden Freitag, den 4. November.
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