Broschürenumschlag eines Verlags aus Barcelona aus der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges. Barcelona war das Zentrum der spanischen anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegungen.
“Wer die Geschichte vom Rütlischwur für die blanke historische Wahrheit hält, ist nicht das naivere Gemüt als der, der mit ebenso glänzenden Augen “Mythos! Mythos” (im Sinne von Lügenmärchen) ruft. Für jede Nation verdichtet sich ihre historische Herkunft in erregenden Geschichten … Diese Geschichten haben eine eminente Funktion. Denn sie sind in ihrem Wesen politische Verhaltensanweisungen. Sie reden vom richtigen und vom falschen Handeln. In ihnen erscheint elementar der politische Wille dieses Landes. … Es teilt dem Volk eine politische Wahrheit mit. Sie lautet: Der Gehorsam im Staat hat seine Grenzen. Untertanengeist darf nie überhand nehmen. Und keine Situation ist so schlimm, dass man nicht doch noch etwas unternehmen kann. Dies aber geschieht auf doppelte Weise: durch Einzelne und gemeinsam. Ohne den Eigensinn des Einzelnen wird die Gemeinschaft zur Herde. Ohne das Zusammenspannen mit den andern wird der Einzelne zum Eigenbrötler.
So also müssen wir diese überlieferten Erzählungen verstehen: als bildkräftige Formulierungen des politischen Willens, der die Eidgenossenschaft früh geprägt und sie mit viel Glück und einigen blauen Augen hat überleben lassen.”
Diese Worte sprach Peter von Matt, emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur, am 1. August 2009 auf dem Rütli.
Von Matt hat ein feines Gespür für die tiefen Wahrheiten in grosser Literatur. Während er sich in seiner Rütli-Rede ganz allgemein auf den Tell-Mythos bezog, ging er in einem NZZ-Artikel
“Triumph eines geschichtlichen Phantoms. Schillers “Wilhelm Tell” und seine Funktion im seelischen Haushalt einer Nation” auf die grossartige Leistung Friedrich Schillers ein, dem Tell-Mythos unsterbliches Leben einzuhauchen.
Hier ein paar Zitate:
“Das Wunder ist die Form. Obwohl bereits von der Todeskrankheit gezeichnet, schafft Schiller mit dem “Tell” die grossartigste szenische Komposition der deutschen Literatur. Wie er die einzelnen Handlungsstränge trennt und verflicht, sie frei laufen lässt und wieder zusammenführt, das hat keiner neben und nach ihm je erreicht.” …
“Der künstlerische Rang macht das Stück zum unbestrittenen Nationaldrama. Aber Schillers Umgang mit den Überlieferungen war für die Schweiz nicht nur angenehm. Tell ist bei ihm auf dem Rütli nicht dabei. Er kümmert sich keinen Deut um das politische Hochamt.” …
“Die Verarbeitung des Stücks im Gefühlshaushalt der Nation lief also auf tendenziöse Vereinfachungen hinaus. Dadurch zerstörte man wesentliche Teile seiner intellektuellen Substanz. … Kein anderes Stück wurde so oft parodiert und verdümmlicht. Ihm gegenüber regredieren auch heute noch erwachsene, intelligente, künstlerisch erfahrene Leute zu kichernden Gymnasiasten, die sich auf dem Niveau von Maturazeitungen bewegen und darüber begeistert sind”.
Markige Worte, — aber das pseudointellektuelle Wilhelm Tell-Kasperlitheater am Stadtheater St. Gallen und die braven Tell-Festspiele für touristisches Sommervergnügen (siehe Tell 15) geben ihm durchaus Recht.
Von Matt macht also klar, dass es Schiller überhaupt nicht darum ging, uns Schweizern ein Nationalepos zu schenken (das übrigens zuerst in der Schweiz gar nicht gut ankam!), sondern er wollte uns mit dem Theaterstück sozusagen als Erbe hinterlassen, was er in seiner Seele als zutiefst wahr und richtig erkannt hatte:
“Frei sein und durch sich selbst bestimmt sein, von innen heraus bestimmt sein, ist eins.”
Was heisst das nun konkret? Die Tatsache, dass der Tell-Mythos und Schillers “Wilhelm Tell” immer dann wieder ihr Kraftpotential deutlich machen, wenn es um grundsätzliche Fragen einer selbstbestimmten Freiheit geht, — sei es politisch und gesellschaftlich, sei es kulturell, sei es seelisch, möchte ich an zwei Beispielen etwas genauer ausführen:
— an der kurzen Blütezeit des spanischen Anarchismus 1936/37 im Spanischen Bürgerkrieg,
und — in der nächsten Folge — an der berühmten Rede Ignaz Troxlers 1822 in der Helvetischen Gesellschaft.
Die “Zürcher Bewegten” hatten 1968 auf ihren Wandzeitungen neben Wilhelm Tell auch Bakunin**, den anarchistischen Revolutionär, erwähnt. Seine Ideen konnten sich gegen Karl Marx und seine Anhänger nicht durchsetzen — ausser in Katalonien und Andalusien, wo seine Lehren auf fruchtbaren Boden fielen. Als Spanien in einen Bürgerkrieg zwischen Francos Falangisten und den Republikanern hineingerissen wurde, ergriffen die Anarchisten die Gelegenheit, ihre Vision politischer und gesellschaftlicher Freiheit in die Tat umzusetzen.
Es ist hier naturgemäss nicht möglich, auf den Anarchismus und seine Ideen einzugehen. Es gibt im Internet genügend gute Einführungen und Dokumentationen dazu, z.B. hier oder hier. Wer sich aber anschauen möchte, was geschah, als ein ganzes Volk beschloss, wirklich frei und durch sich selbst bestimmt zu sein, findet auf Youtube im Film “Utopie leben!” einen eindrücklichen und berührenden Dokumentarfilm über katalonische Anarchisten und Anarchistinnen, die noch sechzig Jahre später mit leuchtenden Augen von ihrer Erfahrung erzählen. Ihr Experiment wurde allerdings schon 1937/38 auf brutale Weise beendet, — nicht durch die Schergen Francos, sondern auf Befehl von Stalin durch die Kommunisten: Das katalonische Modell eines freiheitlichen Sozialismus war eine tödliche Bedrohung des “real existierenden Gulag-Sozialismus” …
George Orwell kämpfte damals auf der Seite der Linken mit und schrieb seine Erlebnisse in “Mein Katalonien” nieder. Sie legten den Grundstein für seine späteren politischen Analysen, die mit “Die Farm der Tiere” und “1984″ zu einem Welterfolg wurden und bis heute ein Mahnmal geblieben sind, Wilhelm Tell nicht zu vergessen. Die “Farm der Tiere” — eine Abrechnung mit Stalins Terrorregime — wurde übrigens kongenial in einen eindrücklichen Zeichenfilm umgesetzt, — für Covid19-Gelangweilte eine super Alternative hier 🙂
** P.S. Bakunin hielt sich im Laufe seine revolutionären Karriere mehrfach in der Schweiz auf und war an der Gründung der anarchistischen Juraföderation mitbeteiligt. In St. Imier fand 2012 ein Anlass zur Erinnerung an den anarchistischen Kongress vor 140 Jahren statt.
Und hier geht’s gleich zur nächsten Folge.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson
Franz Büchler
Apr 18, 2020
Bei Jakob Tanner gelesen:
»Wenn wir auf die Seite des Rütlischwurs wechseln würden, und aus Tell ein bisschen mehr Robin Hood machen könnten, der er auch immer war, gäbe es eine produktive Perspektive.«
max feurer
Apr 18, 2020
Schön, ‑aber was heisst,auf die Seite des Rütlischwurs zu wechseln?
Franz Büchler
Apr 19, 2020
Ja, der Rütlischwur, welchen nehmen wir?
Ich würde sagen Urfassung von Schiller.
Und daraus nehme ich jetzt nur einen Satzanfang, denn das ist meine Interpretation:
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WIR WOLLEN SEIN EIN EINZIG VOLK …
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Und das einzig Volk hat …
nur einen Steuersatz nicht 26
und nur eine Erbschaftssteuer und nicht 26
und nur ein Schulsysten nicht 26
und 26 x 2 Ständeräte
und ausgeloste Nationalräte
und keine Vorrechte für Wirtschaft, Reiche, Kirche, etc.
und, und, und …
max feurer
Apr 20, 2020
Kann man so sehen, aber “einzig” und “einheitlich” bedeutet nicht unbedingt dasselbe. Für mein Empfinden meinte Schiller mit “einzig” wohl eher “aus einer Wurzel stammend, an einem Strick ziehend”. Er wollte ja kein historisches Drama schreiben, das sich nur auf die Schweiz bezieht, — es wurde ja durchaus auch in Deutschland als “Nationaldrama” verstanden. Tell und der Rütlischwur sind international 🙂
Franz Büchler
Apr 20, 2020
Ich finde die Duden Interpretation noch schön: alleinig; nicht mehrfach vorkommend.
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Aber das mit dem am gleichen Strick ziehen ist sicher schön, nur sollte es dann in die gleiche Richtung gehen …
max feurer
Apr 20, 2020
Da hast du sicher recht: Wenn die einen am einen und die andern am andern Ende ziehen, dürfte es schwierig werden 😉