2017 wurde im Stadtthe­ater Basel wieder ein­mal Schillers “Wil­helm Tell” aufge­führt. Der The­ater­regis­seur Ste­fan Bach­mann liess sich in Zusam­me­nar­beit mit dem Schaus­piel Köln eine beson­dere Insze­nierung ein­fall­en: Keine The­aterkulis­sen, nur eine gigan­tis­che Holzwand mit ein­er kreuzför­mi­gen Einsparung, in der die Schaus­piel­er mehr oder weniger herum­sassen — und krochen; Sprechen nach dem Blankvers-Takt, das Endi­gen mit dem Zeile­nende, das Wiederneuanset­zen mit Zeilenbeginn …

Tell in Basel

Die Aus­rich­tung der Auf­führung auf das so leicht ver­fremdete gesproch­ene Wort hat­te eine über­wälti­gende Wirkung, was sich etwa darin zeigte, dass am Schluss des Stück­es im Pub­likum lange Zeit ein­fach Stille herrschte — man hätte eine Steck­nadel auf den Boden fall­en hören kön­nen -, bis sie sich schliesslich im tosenden Applaus entlud. Ein Kri­tik­er schrieb: “Beim oft belächel­ten Rütli-Schwur “Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in kein­er Not uns tren­nen und Gefahr” herrschte geban­ntes Schweigen, als hätte das Pub­likum einem magis­chen Akt beige­wohnt”. Es schien, als würde uns Zuschauern wieder deut­lich, welch tiefe Botschaft Friedrich Schiller uns mit seinem The­ater­stück weit­ergeben wollte.

Nur — was ist diese Botschaft!?

Bar­rikadenkampf 1848 Berlin

Während der europäis­chen Feb­ru­ar­rev­o­lu­tion von 1848 kon­nte man nach den Bar­rikadenkämpfen in Berlin an den Mauern des Opern­haus­es die mit Krei­de geschriebe­nen Worte lesen: “Über­mor­gen Wil­helm Tell”.

Mauer­bau 1961 Berlin

1962 erschien nach der Errich­tung der Berlin­er Mauer in ein­er Auf­führung der Tyrann mit Wal­ter Ulbrichts Spitzbart, und “Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern” erhielt damit eine höchst brisante Bedeutung.

Was ist hier die Botschaft?

Tell Leibach­er

2006 wurde im Stadtthe­ater St. Gallen Schillers “Wil­helm Tell” aufge­führt. Auch der The­ater­regis­seur Samuel Schwarz liess sich eine beson­dere Insze­nierung ein­fall­en: Er mis­chte The­ater­for­men und Bedeu­tungsebe­nen bunt und liess unter anderem Niet­zschez­i­tate und  Anspielun­gen auf Abu Ghraib ein­fliessen. Am Schluss zitierte Wil­helm Tell seinen berühmten Monolog vor der Erschies­sung Gesslers in der Mon­tur des  Zuger Atten­täters Friedrich Leibach­er und Wal­ter­li Tell zeigte sich als mit 1. August-Sprengstoff bepack­ter kindlich­er Selb­st­mor­dat­ten­täter im Zuschauerraum.

Was ist hier die Botschaft?

Hitlers Ver­bot

Im Drit­ten Reich kam Schillers Wil­helm Tell mit dem Segen der Parteiführung als his­torisches Abbild der “nationalen Erhe­bung 1933” über Jahre hin­weg höchst inten­siv auf die Bühne — bis 1941, als sämtliche Auf­führun­gen auf per­sön­lichen Befehl Hitlers von einem Tag auf den andern gestoppt wur­den. Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass das Ver­bot im Zusam­men­hang mit dem Atten­tatsver­such von Mau­rice Bavaud stand, der 1941 auf dem Schafott hin­gerichtet wurde.

Was ist hier die Botschaft?

Globuskrawalle 1968 Zürich

Nach dem “Globuskrawall” 1968 kon­nten “Bewegte” im Pavil­lon Le Cor­busier auf Wandzeitun­gen und rev­o­lu­tionären Flug­blät­tern ihren Willen kund­tun und sich dabei auf ihre Helden beziehen: Da waren — nicht weit­er erstaunlich — Bakunin, Leary, Dutschke, Ho Chi Minh, Lenin, Mao, Kropotkin, Trotzky. Im zweit­en Rang fand sich mit 30facher Erwäh­nung Che Gue­vara, — aber an der Spitze sass unange­focht­en 42-fach Wil­helm Tell :-).

Was ist hier die Botschaft?

Tell­spiele Interlaken

Die Schweiz­er Touris­mus­seite myswitzerland.com meldet stolz, dass die Tell­spiele Inter­lak­en mit über 1250 Auf­führun­gen und 2 Mil­lio­nen Zuschauern eine grosse Erfol­gs­geschichte sind.

Die deutsche Schrift­stel­lerin, Dich­terin, Philosophin und His­torik­erin Ricar­da Huch kom­men­tiert hinge­gen in ihrem Buch über Bakunin ziem­lich sarkastisch: “Wie reimt es sich, dass ein Volk, dessen Nation­al­held Wil­helm Tell ist, der Mörder Gesslers, einen Mazz­i­ni ausstösst? Wer so fragte, ver­gisst, dass die schweiz­erische Frei­heit eine hüb­sche blanke Rüs­tung ist, welche bei Gele­gen­heit von Gedenk­feiern mit Pomp getra­gen wird, dann aber wieder in die Grüm­pelka­m­mer wan­dert.”

Was ist hier die Botschaft? 

Zele­bri­eren wir Tell in der Schweiz ein­fach noch als touris­tis­che Folk­lore, haben aber das, was Schiller uns kurz vor seinem Tod 1805 sagen wollte, (noch) nicht begrif­f­en? Leben wir heute gar in ein­er Schein-Frei­heit, die eigentlich keine mehr ist?

Wie dem auch sei: Mit diesen weni­gen kon­tro­ver­sen Beispie­len sind wir schon mit­ten in der Inter­pre­ta­tion­s­geschichte von Friedrich Schillers erfol­gre­ich­stem Theaterstück.

Vielle­icht kom­men wir nicht umhin, zur weit­eren Ver­tiefung der Fragestel­lun­gen wieder ein­mal — vielle­icht seit Jahren und Jahrzehn­ten —  sel­ber einen Blick in das Werk zu wer­fen. Wer sich ein­fach rasch einen Überblick ver­schaf­fen will, kann das hier tun. Wer Schillers Blank­verse geniessen möchte, kann sich den Tell als PDF herun­ter­laden. Für unseren Helden rel­e­vante Pas­sagen find­en sich auf den Seit­en 6–8, 19–20, 57–62, 68–92, 93–95, 103–111, 124–132.
(Die let­zten bei­den Textblöcke sind wichtig für die Diskus­sion Tell — Frei­heit­sheld oder Ter­ror­ist respek­tive “para­noi­der Queru­lant” (Samuel Schwarz))

Eine kleine Nachbe­merkung mein­er­seits erfol­gt aus­nahm­sweise schon mor­gen, am Oster­son­ntag!

Wer einen Kom­men­tar abgeben möchte, unten ist “Bahn frei” 🙂

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