“Naiv ist jede Weltanschauung, welche die Dinge, wie sie uns in Zeit und Raum erscheinen, für die Welt schlechthin hält. Augenscheinlich naiv-realistisch sind Naturalismus und Wissenschaftsglaube in all ihren Abarten. Naiv-realistisch ist aber auch alle Philosophie, die aus der Erfahrung einer relativen und begrenzten Objektwelt ein absolutes, unbegrenztes Sein konstruiert. Indem er die begrenzte Welt der Gegenstände in Gedanken ins Unendliche vergrössert, indem er aus dem Vielfachen in Gedanken eine Einheit schmiedet, gewinnt der Mensch ein monströses, unvorstellbares Gedankending, das er das Sein oder auch Gott nennt. Dieses Sein der sogenannten Ontologie enthält keine Freiheit, sondern alle Gesetze und Zwänge, von denen die begrenzte Welt der Objekte beherrscht wird. Das Ich wird durch diese Gedankenakrobatik einem imaginären Objekt eingegliedert und untergeordnet. Es wird degradiert zu einem winzigen und bedeutungslosen Teilchen des Seins oder der Gottheit. Ein Recht zu leben hat es nur, wenn es sich dem Gesetz des Allgemeinen unterordnet oder, religiös ausgedrückt, Gottes Befehlen gehorcht.”
Dieser Textauszug findet sich im Essay Koechlins “Die Philosophie eines freien Geistes. Versuch über Nikolai Berdjajew.” Welche Folgerungen kann man daraus ziehen?
1. Berdjajew deklariert das materialistische wissenschaftliche Denken, das im Zeit/Raum-Denken befangen ist, das aber heute als alleiniger Massstab für Wissenschaftlichkeit gilt, als naiv.
2. Ein “Gott”, der das Produkt einer wie auch immer gearteten mentalen und philosophischen Vorstellung ist, ist genau das: lediglich eine Vorstellung des Menschen, die jeglicher tiefergehender Realität entbehrt.
Man sollte sich die Konsequenz dieser Aussage klar machen: Sie gilt nicht nur für intellektuelle Gedankenakrobaten, die tiefsinnig über “das Sein” philosophieren, sondern noch viel mehr für all jene Christen, welche Gott als Idee ausserhalb ihrer selbst postulieren, z.B. als alter Mann mit Bart auf Wolke sieben, als “Uhrmachergott”, oder als mysteriöser “Seinsgrund”, mit dem man sich dann nicht weiter beschäftigen muss.
Mit “Du sollst dir kein Gottesbild machen”, beginnt das erste der zehn Gebote, aber es ist den wenigsten Christen klar, dass sie, wenn sie am Sonntag in der Kirche “Ehre sei Gott in der Höhe” singen, genau diesem mentalem Gottesbild aufsitzen.
3. Für einen solchen “Gott” spielen wir als Individualität keine Rolle. Eine konkrete “Ich-Du”-Beziehung (Martin Buber) ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Vielleicht wird jetzt die Aussage Berdjajews in der 9. Folge, dass dieser “Gott” nach dem Muster der menschlichen politischen Institutionen geschaffen sei, etwas klarer. Man erinnere sich an das mittelalterliche Bild der Stände, worin “Gott” als der Garant der “gottgegebenen” gesellschaftlichen Ordnung erscheint und das seine Gültigkeit bis zur französischen Revolution behielt. Oder an das Bild, das Johannes Calvin von “Gott” zeichnete: Es war der “Gott” des aufstrebenden Bürgertums, wo Gottesnähe direkt mit dem wirtschaftlichen Erfolg in Beziehung gesetzt wurde. Max Weber hat das in seiner klassischen Studie “Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus” aufgezeigt.
Das dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass ein kapitalistischer Unternehmer im England des 19. Jhdts. sich dank seines calvinistischen Gottesbildes den Sonntagsbraten durchaus schmecken liess auch im Wissen darum, dass in seinen Bergwerken, Spinnereien und Webereien Kinder jeden Tag 10 Stunden für einen Hungerlohn schufteten.
Und nicht zuletzt wird klar, warum ein Anarchist wie Bakunin sich als Atheisten betrachtete, weil er in seinem Buch “Gott und der Staat” genau dieses illusionäre und letztlich destruktive Gottesbild bekämpfte, das den “Status Quo” einer ungerechten Gesellschaftsordnung zementierte. Koechlin: “Berdjajew nennt diese Gottesvorstellung Soziomorphismus. Ihr gegenüber hat der Atheismus recht. Diesen Gott gibt es nicht.”
Gehen wir nun zum nächsten Abschnitt in Koechlin’s Essay:
“Der naive Realismus lebte weiter, sowohl im wissenschaftsgläubigen Determinismus, als auch in einer Theologie, welche auf der Vorstellung Gottes als einer die Welt regierenden objektiven Macht basierte. Die naiv-historische Auffassung der christlichen Heils- und Unheilsgeschichte fand ihre weltliche Fortsetzung im historischen Determinismus, vor allem aber bei Hegel, für denn der einzelne nichts ist denn ein Werkzeug, das willentlich einem absoluten, objektiven Weltgeist zur Vollendung seines historischen Ziels dient. Wer sich gegen den Verlauf der Geschichte stellt, wird von ihr vernichtet, und noch in seinem Untergang dient er dem höheren Zweck, zu dem er als Person eigentlich keine Beziehung hat.”
Ist das nicht eine perfekte Beschreibung der totalitären Ideologien, die das 20. Jahrhundert für Abermillionen zu einem blutigen Albtraum werden liessen?
- Hitler schwafelte von der “Vorsehung” (sein mentales Gottesbild), die es ihm erlaubte, all jene, die für “den Verlauf der Geschichte” — nämlich den Sieg der Arier-Herrenrasse — hinderlich waren, als notwendigen Schritt zu vernichten. Und die “herrischen Arier” wurden zu einer gesichtslosen Masse, die ihm an den Parteitagen frenetisch zujubelten.
— Stalin und Mao waren bereit, für das Ideal einer imaginären “klassenlose Gesellschaft”, das es unbedingt zu erreichen gab, über ein paar Millionen Leichen zu gehen. George Orwell hat die Lüge dieser neuen Gesellschaftsordnung mit seiner Parabel “Die Farm der Tiere” glasklar deutlich gemacht. (Den höchst sehenswerten Trickfilm dazu dazu kann man hier gratis anschauen).
Wenn wir uns ein Bild von Gott machen, setzen wir ihn uns ihm gegenüber und verfallen damit dem Zustand einer Subjekt-Objekt-Spaltung. Koechlin:
“Zu ihm geführt hat ein Prozess, den Berdjajew Objektivierung nennt. Religiös ausgedrückt ist es der Abfall von Gott. Weder spielt sich dieser Prozess im kosmischen Raum ab noch in historischer Zeit. Vielmehr sind der kosmische Raum und historische Zeit seine Produkte. Die objektivierte Welt ist eine veräusserte, veräusserlichte, sich entfremdete Welt. Hier wird alles zum Objekt, und indem wir das andere oder die anderen objektivieren, objektivieren wir auch uns selbst. Der Mensch wird so zum Objekt der Psychologie, der Soziologie, der Geschichte, usw. Wir veräussern uns an Zivilisation und Technik. Im Verlauf des “Fortschritts” werden wir selbst mehr und mehr zu blossen Objekten.”
Berdjajew formulierte diese Gedanken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber sie könnten auf die heutige Situation nicht zutreffender sein. Sind wir also in einer ausweglosen Sackgasse gefangen? Der russische Religionsphilosoph verneint ganz klar:
Dieser Prozess der Objektivierung ist aber kein Naturprozess. Er entstammt der Freiheit und und birgt die Möglichkeit der Umkehr.”
Damit taucht die Frage auf, worin diese Umkehr bestehen könnte und wie unsere Beziehung zu einem völlig anders gearteten Gott denn gestaltet sein müsste. Auch dazu machte sich Berdjajew natürlich seine Gedanken. Darauf gehen wir in der nächsten Folge ein.
An anderen Serien interessiert?
Wilhelm Tell / Ignaz Troxler / Heiner Koechlin / Simone Weil / Gustav Meyrink / Narrengeschichten / Bede Griffiths / Graf Cagliostro /Salina Raurica / Die Weltwoche und Donald Trump / Die Weltwoche und der Klimawandel / Die Weltwoche und der liebe Gott /Lebendige Birs / Aus meiner Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reichsidee /Vogesen / Aus meiner Bücherkiste / Ralph Waldo Emerson / Fritz Brupbacher / A Basic Call to Consciousness / Leonhard Ragaz /
Christoph Meury
Aug 9, 2020
Ich bin mir nicht sicher, ob es zielführend ist alle greifbaren Philosophien, all die klugen Bücher, Essays und Traktätchen nach Verwertbarem abzuklappern und daraus, in einer Art philosophischen Bricolage, ein neues Weltbild, Gottesbild, oder allfällig die ultimative philosophische Querschnittsmenge zu destillieren. Heureka! Wir haben soeben die eierlegende Wollmilchsau zum Leben erweckt. Daraus ableitend können wir zukünftig alle Lebens- und Daseinsfragen abschliessend beantworten.
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Der neue Mensch (mir stellen sich gleich die Nackenhaare) zusammengeköchelt aus Nikolai Berdjajewe, Max Weber, mit einem Schuss Heiner Koechlin (Eigenmix), einer Handvoll Michael Bakunin & Proudhon, mit C.G. Jung abgeschmeckt, angereichert mit Elisée Reclus undPjotr Kropotkin, mit Gustav Landauer kräftig sozialistisch gewürzt, mit mystischem Grundbrummen à la Theresa von Avila und der indischen Variante von Vivekananda geschüttelt, vielleicht noch mit einem Schuss von Meister Eckhardt und Gnostikern aus dem Mittelalter: Bogomilen, Katharer, Waldenser, Beginen und Begarden abgeschmeckt, mit einem Zwischenschritt zu Albert Camus, um die Tinktur am Köcheln zu behalten, in der Pariser Commune von 1871 abkühlen lassen, um in Davos mit Rudolf Steiner& Co. der sozialen Dreigliederung zuzuführen, usw. usw.
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Mir brummt der Schädel!
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… Die ganze Mischung durch ein Sieb seihen und die Brühe draussen im Freien endgültig abkühlen lassen. Achtung! Die Mischung ist eventuell explosiv. Je nach Dosierung und Verarbeitungsprozedere sind die intellektuell-chemischen Prozesse unkontrollierbar. Es fehlen Erfahrungswerte. Vermutlich implodiert der Mix. Zurückbleibt eine leicht klebrige philosophische Fantasie-Figur, welche Marcel Reich-Ranicki mit dem Brecht-Zitat «Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen« in die Weiten des profanen Alltags entlassen würde, auf dass sie sich behaupten können.
Hans-Jörg Beutter
Aug 9, 2020
speziell konstruktiv und enorm kollegial …
feurer spürt in seinen beiträgen den (ideologischen) gedankengängen eines andren menschen (einer früheren generation) nach (diachron, monothematisch) – ich glaube nicht, dass dem werten «kommentator« selbst sowas passieren könnte …
ich vermute vielmehr, das schädelbrummen könnte ja auch vom flaschengeist stammen.
sein »wikipedia*-schöngeist-geschwurbel« inspiriert mich jedenfalls nicht sonderlich.
(*das silvabuch der digital spätberufenen?)
schon mal an hitzeferien gedacht? 😉
Christoph Meury
Aug 10, 2020
Apropos Geschwurbel & kryptisches Gejaule: Wenn wir uns gedanklich schon mit anarchistischen Vorgaben beschäftigen, dann möchten wir doch immerhin in der Praxis herrschaftsfrei agieren können. Wir brauchen also keinen Chefmoderator! Zudem passt es schlecht, wenn man unliebsame Schreiber in die Wüste schickt. ER soll sich doch gelegentlich thematisch & inhaltlich artikulieren, so er, trotz Sommerhitze, dazu fähig ist. Ansonst gibt es ja wenig Sinn, dass er extra den weiten Weg von der Challhöhe bis nach Birsfelden unter die Füsse nimmt, um hier missionarisch tätig zu werden.
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Mit unseren rund 32 Hafengeschichten haben Franz und ich genügend Substanz geliefert, um auch mal praxisnah zu palavern. Das könnte für Ethnologen und sonstige Vögel reizvoll sein und inhaltlich was hergeben. Erfreulich ist zumindest, dass die Grünen in Klausur gegangen sind und uns zu unseren Fragen ausführliche Antworten geliefert haben (Hafengeschichte Nummer 32).
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Möglicherweise werden auch die anderen Parteien demnächst ein Brainstorming in Gang setzen und uns mit Ideen und Vorschlägen zur weiteren Hafen- und Stadtentwicklung eindecken. Das wäre dann das Benzin, um den Diskurs in Schwung zu bringen.
Hans-Jörg Beutter
Aug 10, 2020
wer genau ist »wir«? »pluralis majestatis« als stilmittel auf einer plattform – notabene zu einem beitrag über den anarchisten koechlin?!
ich mag den breiten fächer und die inhaltliche qualität der beiträge (!) – ausserordentlich für eine gemeindeplattform: chapeau – das betrifft auch die beiträge zur hafennutzung – hochklassig investigativ.
die kommentare halten da mE leider nicht ganz mit – und um mit feurer zu sprechen: wenn Ihnen ein beitrag nicht gefällt – einfach auslassen (statt manisch drüber zu pinkeln .… weniger wäre manchmal deutlich mehr).
Max Feurer
Aug 10, 2020
Da ich zurzeit in der Bretagne bin und das birsfaelder.li deshalb keine Priorität geniesst, kann und will ich auf Christoph Meurys ziemlich höhnischen Kommentar nicht ausführlich eingehen.
Es ist offensichtlich, dass wir beide auf verschiedenen „Wellenlängen“ funktionieren. Das stört mich nicht, aber ich möchte wenigstens an einem Beispiel illustrieren, was ich damit meine:
Während für mich die Tatsache, dass der herausragende Anarchist Gustav Landauer sich intensiv mit dem Mystiker Meister Eckhart auseinandersetzte und eine eigene Übersetzung anfertigte, kein innerer Widerspruch ist, kann das Meury auf seinem intellektuellen hohen Ross schlichtweg nicht nachvollziehen. Aber das ist nicht mein Problem.
Wenn Koechlin sich von der Religionsphilosophie Berdjajews, der die radikale Freiheit des Menschen postulierte, angezogen fühlte und sich mit diesem Denker auseinandersetzte, kann ich das sehr gut nachvollziehen. Wenn das Christoph Meury als intellektuell absurd erscheint und er Koechlin deswegen posthum an den Karren fährt, soll er das ruhig tun. Aber zu glauben, dass er damit Koechlins inneren Weg als Illusion entlarvt hat, zeugt von einer gewaltigen intellektuellen Arroganz.
Mit dieser Aussage dürfte ich mir wohl die nächste Tirade eingehandelt habe ;-). Sei‘s drum …
Eine ausführlichere Replik folgt irgendwann nächste Woche.
Christoph Meury
Aug 10, 2020
Zuerst einmal: Natürlich ist mein Kommentar als Provokation angelegt. Insofern ist die Farce durchschaubar. Die Überreaktion aber zeigt, dass eine solche Posse offensichtlich auch das Hochamt der Intellektuellen massiv stört und bis in die Bretagne Wellen wirft. Ich habe es längstens verstanden: Hier wird unumstössliches Wissen im Frontalunterricht zelebriert. Da sind Einwände und Vorbehalte bereits ein Sakrileg und werden als Arroganz gegeißelt. Intellektuelle Arroganz! Gewaltige Intellektuelle Ignoranz (eine Steigerungsform). Naja, da man all die toten Philosophen, Mystiker und Anarchisten (gibt es eigentlich keine Frauen?) posthum nicht mehr befragen kann, stehen ihre schriftlichen Aussagen, vielleicht nicht gerade auf tönernen Füssen, aber die Aussagen und Interpretationen sind nicht apriori in Stein gemeisselt. Fragen dürften daher erlaubt sein. Sei’s drum!
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Was für die Politik gilt, gilt vielleicht in gewissem Umfang auch für die Philosophie & im Speziellen bei der Geschichtsforschung.
Bei Roland Stark und seinen, jetzt in Buch gefassten Kolumnen, lese ich Folgendes: «Ohne Streit«, diagnostiziert Heiner Geissler, «wird man zuerst uninteressant, dann langweilig, schliesslich einschläfernd, und am Schluss ein Fall für das Betäubungsmittelgesetz. Konform, uniform, chloroform.« (…) Politik dürfe nicht mit einem «Krippenspiel« verwechselt werden, indem nur ein paar Heilige und unschuldige Viecher auftreten und die anderen andächtig zuschauen.
(Roland Stark, Stark! IL-Verlag, 2020)
Max Feurer
Aug 11, 2020
Kleiner Nachtrag zu der Frage nach anarchistischen Frauen:
Ja, die gab es durchaus, allerdings als kleine Minderheit, wie das halt in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft so war .. Hier finden sich ein paar Beispiele: https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker.
Max Feurer
Aug 11, 2020
Ach nein, jetzt habe ich in meiner Naivität doch tatsächlich geglaubt, einen höhnischen Unterton aus Ihrem Kommentar herauszuhören anstatt zu realisieren, dass es sich lediglich um eine provokative Farce handelte 🙁
Was das Zitat von Heiner Geissler betrifft: Völlig einverstanden, dass eine echte Streitkultur unabdingbar ist, wenn wir uns gegenseitig in unserem Verständnis fördern wollen. Aber dann würde ich in aller Bescheidenheit vorschlagen, dass wir uns auf den hier vorliegenden Text konzentrieren, und im Speziellen auf die Aussagen Berdjajews, wie sie von Koechlin vorgestellt werden.
Was daran macht für Sie Sinn, was ist für Sie lediglich intellektuelles Geschwafel? So kommen wir hoffentlich in einen konstruktiven Dialog, — und „konstruktiv“ heisst noch lange nicht „langweilig, einschläfernd und chloroform“, oder sehe ich das wieder vollkommen falsch ;-)?