“Okkultismus” — ein Begriff, der je nach Standpunkt des Lesers und der Leserin entweder ein Synonym für verbotenes, gefährliches, vielleicht aber auch faszinierendes geistiges “Territorium” ist, — oder schlicht und einfach für hanebüchenen Unsinn, den man am besten so schnell wie möglich vergisst.
Weil diese Begriffe so diametral entgegengesetzte Reaktionen auslösen, lohnt es sich, vorerst einen etwas genaueren Blick darauf zu werfen, bevor wir uns Meyrink wieder zuwenden können: “Okkultismus (von lateinisch occultus ‚verborgen’, ‚verdeckt’, ‚geheim’) ist eine unscharfe Sammelbezeichnung für verschiedenste Phänomenbereiche, Praktiken und weltanschauliche Systeme, wobei okkult etwa gleichbedeutend mit esoterisch, paranormal, mystisch oder übersinnlich sein kann.” (Wikipedia)
Das gängige Geschichtsbild, das auch heute noch in vielen Köpfen steckt, geht in etwa dahin, dass es früher bei uns im “dunklen Mittelalter” bis in die Neuzeit jede Menge Aberglauben gab. Man hatte Angst vor dem Teufel und der Hölle, verbrannte auf Teufel komm raus Hexen und Ketzer, zitterte bei jedem neuen Kometen, der Unglück bringen würde, versuchte Gold zu machen, glaubte, die Erde sei flach und Gott könne, wenn es ihm beliebe, die Sonne — die sich selbstverständlich um die Erde dreht — einfach mal ein paar Stunden still stehen lassen. Denn so wird es in der Bibel erzählt, und die Bibel ist unfehlbar. Wer anderer Meinung war, wurde von der Kirche unsanft in den Senkel gestellt und musste zurückkrebsen wie Galileo Galilei. Ansonsten wartete der Scheiterhaufen wie für Giordano Bruno.
Doch dann kam ja irgendwann glücklicherweise die Aufklärung, kamen Evolutionstheorie und Psychoanalyse. Und heute sind wir alle so aufgeklärt, dass es aufgeklärter gar nicht mehr geht: Wir haben die Spitze der menschlichen Evolution erreicht, mit Spitzentechnik und Spitzenmedizin 🙂 .
Dieses Bild ist natürlich nicht ganz falsch, aber es ist noch viel weniger richtig. Denn eine ganze Reihe von Historikern hat inzwischen entdeckt, dass es in der europäischen Geistesgeschichte hinter den sichtbaren religiösen und kulturellen Strukturen seit jeher einen Untergrundfluss an Ideen und Bewegungen gab, der seine Quellen im Platonismus, Neuplatonismus, der Gnosis und der Hermetik hatte, und der — zwar oft verketzert und verfolgt — , immer wieder mal an die geschichtliche Oberfläche trat.
Namen wie Johannes Trimethius, Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, Giordano Bruno oder John Dee seien erwähnt, um wenigstens eine kleine Auswahl aus dem 15./16. Jahrhundert zu präsentieren. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sie alle zum Typus “Universalgelehrte” gehörten, wie man bei einem Blick auf ihre Vita feststellen kann. Auch Astronomen wie Johannes Kepler oder Tycho Brahe mit ihren Forschungen zur Sphärenharmonie sollten erwähnt werden, nicht zu vergessen Isaac Newton, der sich mit Alchemie mindestens so intensiv wie mit Physik und Mathematik auseinandersetzte.
Naja, wird man jetzt einwenden, das waren halt einfach Gelehrte, welche die Eierschalen mittelalterlichen Aberglaubens noch nicht ganz abgeworfen hatten, aber dank ihres Forschungsdrangs zu Pionieren einer von allen Hirngespinsten geläuterten Naturwissenschaft wurden.
Nur — so einfach ist es nicht. Diese “Hirngespinste” blieben abseits des religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Mainstreams quicklebendig, — so lebendig, dass es heute eine ganze Reihe von universitären Lehrstühlen gibt mit der Aufgabe, Licht in dieses geheime Leben zu bringen, z.B. an der Sorbonne (Antoine Faivre), oder an den Universitäten Amsterdam (Wouter J. Hanegraaff), Exeter (Nicholas Goodrick-Clarke) oder Michigan State (Arthur Versluis). Der von Hanegraaff herausgegebene “Dictionary of Gnosis & Western Esotericism” umfasst immerhin 1200 kleinstgedruckte Seiten!
In Amsterdam entstand die weltweit grösste Bibliothek für “Geheimwissenschaften”, die “Bibliotheca Philosophica Hermetica” in der Embassy of the Free Mind. Vergessen wir auch nicht C.G. Jung, der sich über Jahrzehnte intensiv mit Gnosis und Alchimie auseinandersetzte.
(Für besonders Interessierte: Hanegraaff schrieb vor einiger Zeit eine Einführung in die aktuelle Forschung mit dem Titel “Esotericism and the Academy”. Und der Anthroposoph Lorenzo Ravagli fasste dessen Inhalt in einer Serie auf seinem Blog ausgezeichnet zusammen.)
Es gab und gibt auch von christlicher Seite her Versuche, sich diesen “okkulten Gebieten” vorsichtig zu nähern. Zwei Pioniere waren z.B. der anglikanische Priester Anthony Duncan mit “Christ, Psychotherapy and Magic” und der höchst produktive evangelische Theologe Gerhard Wehr.
Der heutige Esoterik-Markt ist inzwischen unübersehbar geworden, mit viel Schrott und einzelnen Perlen dazwischen. Wir wollen aber jetzt zurück zu Gustav Meyrink*. Als er als Bankier sein Glück zu machen versuchte, rollte gerade eine gewaltige Welle namens “Spiritismus” über die ganze westliche Welt, ausgelöst von den Fox-Schwestern in Hydesville, einem kleinen Kaff im Staate New York. Das “Tischerücken” entwickelte sich zu einem internationalen Volkssport — vor allem in den gehobeneren Schichten, und es gab die ersten Stars der Szene, z.B. Florence Cook oder Daniel Dunglas Home.
Meyrink als “Abenteurer des Geistes” beschloss, dem Wahrheitsgehalt spiritistischer Phänomene selber auf den Grund zu gehen und organisierte nach eigenem Bekunden Hunderte von sog. Séancen mit verschiedensten Medien. Was er dabei herausfand und welche Rolle der “Okkultismus” in seinem Leben zu spielen begann, wird das Thema der nächsten Folge im neuen Jahr
am Samstag, den 2. Januar 2021 sein.
*Als Gustav Meyer seine schriftstellerische Laufbahn begann, änderte er seinen Nachnamen zu Meyrink und berief sich darauf, dass seine Familie sich in früheren Zeiten “Meyrink” nannte.
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