Brupbacher hatte James Guillaume 1905 anlässlich eines Besuchs bei Pjotr Kropotkin kennengelernt. Daraus erwuchs zwischen ihm und dem 31 Jahre älteren Guillaume eine Freundschaft, die bis zu dessen Tod 1916 dauerte.
In seiner “Ketzer”-Biographie fasst Brupbacher dessen Lebensstationen kurz zusammen:
Guillaume war der Sohn eines Neuenburger Regierungsrates, hatte Philologie studiert, wurde Mittelschullehrer, wurde als solcher seiner Stellung entsetzt wegen sozialistischer Tätigkeit. War eines der tätigsten Mitglieder des bakunistischen Flügels der Ersten Internationale. Wurde zusammen mit Bakunin 1872 durch die Marxisten aus der Internationale ausgeschlossen. War eines der hervorragendsten Mitglieder der damals gegründeten antiautoritären Internationale.
Guillaume war mit Bakunin befreundet, dessen gesammelte französische Werke er 1907 publizierte, und war massgeblich am Übertritt Kropotkins zum Anarchismus beteiligt. Er publizierte in Le Locle mit “Le Progrès. Tout pour le peuple et par le peuple” die erste anarchistische Zeitung der Schweiz, gefolgt vom “Bulletin de la Fédération Jurassienne”, der revolutionären Bewegung der Uhrenarbeiter im Berner und Neuenburger Jura.
Er wurde wegen seiner Tätigkeit in der Schweiz ökonomisch unmöglich. Im Jahre 1878 wanderte er nach Frankreich aus und wurde dort Mitarbeiter am pädagogischen Diktionär, einem großen Unternehmen. Bearbeitete das französische Bildungswesen der großen Französischen Revolution. War später Mitarbeiter und Redaktionssekretär des großen, bei Hachette erschienenen geographischen Lexikons. Um nicht aus Frankreich ausgewiesen zu werden, und zudem, weil nach dem Fall der Kommune in Frankreich kein Boden war für die Ideen, die er vertreten, war Guillaume von 1878 bis gegen 1900 nicht aktiv in der Arbeiterbewegung tätig.
Doch mit der Entwicklung des revolutionären Syndikalismus in Frankreich erwachte in Guillaume wieder das alte Feuer. Mit Brupbacher zusammen hielt er in der Westschweiz Vorträge. Und natürlich wurde intensiv diskutiert:
Jahrelang legten wir einander alle wichtigen Fragen vor, bevor wir uns entschieden. Ich tat oft etwas nur um James Guillaume willen, was ich sonst anders gemacht. Das sicherste Zeichen dafür, daß man freundschaftlich an jemanden gebunden ist.
Ein Streitpunkt war etwa, dass Guillaume — der Liebhaber von Lukrez, Homer, Rabelais, Ronsard, Molière, Voltaire — sich voll und ausschliesslich in der Gewerkschaftsbewegung engagierte, während Brupbacher mit seinem “idealen Sozialismus” darauf drängte, die ArbeiterInnenschaft auch kulturell zu fördern:
Ich sagte ihm, wir Intellektuellen seien doch alle zur Bewegung gekommen, weil wir von ihr erhofften, daß sie uns etwas bringe, was die Bürgerkultur nicht gebracht : eine höhere Kultur. James Guillaume gab mir recht, und doch nicht. Er gab zu, daß wohl noch höhere Werte zu verwirklichen seien, als die Gewerkschaftsbewegung verwirkliche. Aber er meinte, in diesem Moment der Geschichte müßten wir alle andern Dinge und Ideale der revolutionären Gewerkschaftsbewegung unterordnen. Die sei jetzt das Wichtigste.
Ich ließ mich von ihm nicht überzeugen. Ich fand, es sei gewiß nicht leicht, neben der ökonomisch-politischen Arbeit auch noch eine kulturelle Arbeit zu verrichten, aber sie müßte verrichtet werden. Mir schien, wir wollten uns nicht einfach mißbrauchen lassen von einer Klasse, sondern sollten auch unser Kulturinteresse wahren, und schauen, daß diese Klasse von dem Unsrigen so viel als möglich annehme.
Dass Guillaume aber einer echten Bildung durchaus nicht ablehnend gegenüberstand, zeigt sich an seiner 1890 veröffentlichten umfangreichen Biographie zu Johann Heinrich Pestalozzi, in dem er den schöpferischsten und kühnsten Denker und Schriftsteller der deutschen Schweiz im 18. Jhdt sah. Sein Vorwort beginnt mit dem Satz:
Pestalozzi tient le premier rang parmi ceux qui ont contribué à fonder la pédagogie moderne.
Guillaume hielt die Geschichte der Ersten Internationale in dem vierbändigen Werk “L’internationale: Documents et Souvenirs” fest, das als Grundlage für Brupbachers Buch “Marx und Bakunin” diente. Davon wird noch zu sprechen sein.
Die Freundschaft der beiden wurde im August 1914 auf eine harte Probe gestellt, als Guillaume sich bei Ausbruch des ersten Weltkriegs als französischer Kriegsfreiwilliger meldete. Ein enttäuschter Brupbacher:
Er, der weinte, als ihm ein Kanarienvögelchen starb, und nie mehr ein Tier wollte, das früher sterbe als er selber, er, der große Humanitär, fand, kein Menschenopfer sei groß genug, wenn es gälte, die französische bürgerliche Republik vor den wilhelminischen Barbaren zu retten. Plötzlich wurde die französische Republik, die noch vor drei Tagen der Hofhund des Kapitals gewesen, für James Guillaume der Hort der Freiheit und Kultur …
Auch Lydia Petrowna, die Guillaume verehrte, nahm Position für die Russen. Einzig der dritte im Freundschaftsbund, “Freund Max” — Max Tobler — , blieb wie Brupbacher bei seiner antimilitaristischen Haltung. Ihm ist die nächste Folge gewidmet, und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 7. Mai
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