Während das erste Werk Emersons, das 1836 veröffentlichte “Nature”, von der amerikanischen Intelligentsia zustimmend und wohlwollend aufgenommen wurde, kam es nach einer Rede, die er 1838 am Harvard Divinity College hielt, zum Skandal: Emerson, der aus einer Pfarrersfamilie in der unitarischen Tradition stammte, trat nach seinem Studium in Harvard in die Fussstapfen seines früh verstorbenen Vaters und wurde 1829 zum unitarischen Pfarrer der Second Church in Boston ordiniert. Doch schon bald kamen ihm Zweifel an den Dogmen, die in seiner Kirche vertreten wurden. 1832 legte er sein geistliches Amt mit den Worten nieder: Diese Art und Weise, Christus zu feiern, ist für mich nicht mehr geeignet. Das ist Grund genug für mich sie aufzugeben.
Als er in der erwähnten Rede vor der Abschlussklasse die Gründe dafür öffentlich vorstellte, kam es zum Eklat. Seine Äusserungen lösten einen solchen Sturm der Entrüstung aus, dass er 30 Jahre lang nicht mehr an die Divinity School eingeladen wurde.
Was wirkte denn damals so schockierend auf die Zuhörer? “Hören” wir uns doch einfach ein paar Ausschnitte aus seiner Rede an:
Nachdem er den angehenden Pfarrern bestätigte, dass er und die Studenten alle “in der christlichen Kirche geboren” seien und “Nahrung aus ihr gesogen” hätten, fuhr er fort: Die Wahrheit, die in ihr enthalten ist, schickt ihr, meine jungen Freunde, euch nun zu lehren an. … Von ihren heiligen Worten, die der Trost der Menschheit gewesen sind, brauche ich euch nicht zu sprechen.
Das alles ist ganz und gar nicht revolutionär. Doch dann fügte er hinzu: Ich werde versuchen, meine Pflicht gegen euch bei dieser Gelegenheit zu erfüllen, indem ich euch auf zwei Irrtümer aufmerksam machen werde, die von dem Standpunkte, den wir soeben eingenommen haben, täglich gröber erscheinen.
Darauf begann er von Jeshua ben Joseph/Jesus Christus zu sprechen:
Jesus Christus gehörte zu den wahren Propheten. Er sah das Mysterium der Seele mit offenem Auge. Angezogen von seiner strengen Harmonie, hingerissen von seiner Schönheit, lebte er darin, und sein ganzes Sein ward davon erfüllt. Als der Einzige in der ganzen Weltgeschichte erkannte er die Größe des Menschen. Dieser eine Mann war dem treu, was in euch und in mir ist. Er sah, daß Gott in jedem Menschen zu Fleisch wird und immer aufs neue ausgeht, von der Welt Besitz zu ergreifen. Und in diesem Jubel erhabener Bewegung sagte er: »Ich bin göttlich. Durch mich spricht, durch mich handelt Gott. Wollt ihr Gott schauen, schauet mich – oder schaue dich selber, so du ebenso denkst, wie ich jetzt denke.«
Aber welch eine Verzerrung mußte seine Lehre und sein Gedächtnis bereits in derselben, in den nächsten und den folgenden Generationen erleiden! … Die Redensarten, die er liebte, die Bilder seiner Rhetorik haben die Stelle seiner Wahrheit eingenommen, und Kirchen werden nicht auf seinen Principien, sondern auf seinen Redefiguren gegründet! Das Christentum wurde zu einem Mythos, wie es vordem die poetische Lehre Griechenlands und Ägyptens geworden war. Er sprach von Wundern; denn er fühlte, daß das ganze menschliche Leben und alles, was ein Mensch thut, ein Wunder sei, und er wußte, daß dieses tägliche Wunder sichtbar leuchtet, sowie der Charakter des Menschen sich hebt. Aber das Wort »Wunder,« wie es die christlichen Kirchen gebrauchen, gibt eine falsche Vorstellung, es bedeutet: Monstrum. Es ist nicht eins mit dem blühenden Klee und dem fallenden Regen.
Er achtete Moses und die Propheten, aber keine ungehörige Zärtlichkeit hielt ihn davon ab, ihre alten Offenbarungen hinter dem Augenblick und dem Menschen der Gegenwart zurückzusetzen und ihnen die ewige Offenbarung des Herzens entgegenzustellen. So war er ein wahrer Mensch. Da er sah, daß ein Gesetz in uns gebietet, wollte er diesem Gesetz nicht von außen her gebieten lassen. Kühn mit Hand und Herz und Leben erklärte er, daß dieses Gesetz Gott sei. Und so ist er meiner Ansicht nach der einzige Mensch in der ganzen Weltgeschichte, der den Wert des Menschen zu schätzen wußte.
Wenn da dem einen oder anderen Zuhörer (es waren ja alles Männer …) zu schwanen anfing, dass bei diesen Ausführungen für den “armen Sünder” nicht mehr viel Platz bliebt, wurde er anschliessend definitiv wachgerüttelt:
I. Von diesem Standpunkt aus erkennen wir den ersten Fehler des historischen Christentums. Das historische Christentum ist in jenen Irrtum verfallen, der alle Versuche, eine Religion auszubreiten, verdirbt. Wie es uns heute erscheint und wie es seit Jahrhunderten erscheinen mußte, ist es keine Lehre vom Geiste mehr, sondern nichts als eine Übertreibung des Persönlichen, des Positiven, des Rituellen. Es haftete immer und haftet noch heute mit schädlicher Übertreibung an der Person Jesu. Der Geist kennt keine Personen. Er fordert jeden Menschen auf, sich selbst zum vollen Kreise des Weltalls zu erweitern, und duldet keine andere Bevorzugung als die spontaner Liebe.
Unser historisches Christentum aber, das nichts als eine orientalische Monarchie ist, die Indolenz und Furcht aufgebaut haben, hat den Freund der Menschen zu ihrem Schädiger gemacht. Die Art, in der sein Name mit Ausdrücken umgeben wird, die einst Ausbrüche der Bewunderung und Liebe waren, die aber heute zu offiziellen Titeln versteinert sind, ertötet alle edelgeartete Sympathie und Liebe. Alle, die mich hören, fühlen, daß die Sprache, in der Christus in Europa und Amerika geschildert wird, nicht der Stil der Freundschaft oder des Enthusiasmus für ein gutes und großes Herz ist, sondern förmlich und eingelernt ist und einen Halbgott schildert, wie die Orientalen oder die Griechen Osiris oder Apollo schildern würden. Wenn wir gar die schimpflichen Behauptungen, die unser erster Unterricht im Katechismus uns aufdrängt, acceptieren, so werden Selbstverleugnung und Ehrlichkeit selbst nur glänzende Sünden, sobald sie nicht den christlichen Namen tragen.
Wahrlich, man möchte lieber »ein Heide sein, Gesäugt in einem längst erstorbnen Glauben« als sich so seines männlichen Rechtes, in die Natur einzutreten, berauben zu lassen und nicht nur Namen und Stellen, nicht nur das Land und alle Berufsarten, sondern selbst die Sittlichkeit und die Wahrheit abgeschlossen und monopolisiert finden zu müssen! Man darf ja nicht einmal ein Mann sein! Du sollst nicht die Welt dir zu eigen machen, du sollst nichts wagen und nicht nach dem unendlichen Gesetze in dir leben, umgeben von der unendlichen Schönheit, die Himmel und Erde dir in tausend lieblichen Formen zurückstrahlen, sondern du hast deine Natur der Natur Christi unterzuordnen und für die letztere hast du unsere Interpretation anzunehmen und sein Bild hinzunehmen, wie der Pöbel es zeichnet.
Verständlich, dass den angehenden Pfarrern angesichts diesem für die damalige Zeit unerhörtem Rütteln am Bilde Jesu als einer weit über allen Menschen stehenden göttlichen Erscheinung, der Atem stocken musste. Aber das war nur der Anfang. Die Fortsetzung findet sich in der nächsten Folge
am Samstag, den 4. Dezember.
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