Als Sigmund Freud in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert seine ersten bahnbrechenden Erkenntnisse zum Unbewussten veröffentlichte, begann ein entscheidend wichtiges neues Kapitel in der Erforschung der menschlichen Seele. Während Bakunin in “Gott” die ins Unendliche projizierte Macht des Menschen über den Menschen sah und dementsprechend bekämpfte, betrachtete Freud jegliches Gottesbild lediglich als Projektionen des Über-Ichs: “Die Beziehung des Ichs zum Über-Ich ist durch das Schuldgefühl des Ichs geprägt, hervorgerufen durch die Kritik des Über-Ichs am Ich. Dieses Schuldgefühl ist auch bei den Normalen zu einem großen Teil unbewusst.” (Wikipedia). Wie stark dieser Mechanismus gerade in religiösen Kreisen wirkte, zeigte der Zürcher Pfarrer und Freud-Schüler Oskar Pfister 1944 in seiner Studie “Das Christentum und die Angst” eindrücklich auf.
Die Entdeckung C.G. Jung’s, Freud’s Kronprinzen, dass in den Tiefen der menschlichen Seele noch andere, “numinose” Kräfte als die Freud’sche Libido wirken, führte zum Bruch zwischen den beiden Geistesgrössen, öffnete aber gleichzeitig die Türe zu einem neuen Verständnis von Religion. Jung erkannte, dass in unserem Innern neben dunklen Aspekten (unser “Schatten”) ungehobene Schatzkammern und verborgene seelische Landschaften liegen, die der Erforschung harren. Und diese Erforschung muss jede/r selber an die Hand nehmen.
Dies hatte auch Berdjajew erkannt, als er postulierte, jeder Mensch besitze ein autonomes Erkenntnisvermögen, eine in ihm selbst ruhende Möglichkeit zur Wahrheit. Diese Wahrheit ist hinter der Sinnenwelt verborgen und dem rationalen Verstand nicht zugänglich. Koechlin:
“Für Berdjajew gehören Natur und Geschichte zur Welt der Phänomene. Eine substantielle, sinngebende Welt liegt jenseits von Zeit und Raum, wo es weder Subjekt noch Objekt gibt. Eine Kenntnis über diese transzendente Welt kann mittels unserer auf die Welt der Objekte bezogenen Verstandeskategorien nicht gewonnen werden. … Geistige oder auch “existenzielle” Erfahrung ist nach seiner Konzeption ganz anderer Art als wissenschaftlicher. Jeder Mensch macht bewusst oder unbewusst Erfahrungen, die ihn an einer transzendentalen Welt teilnehmen lassen. … Berdjajew nennt die existentielle Erfahrung subjektiv, weil sie sich im Innern des Subjekts vollzieht. … Die existentielle Zeit befindet sich auf einer Ebene jenseits von Einsteins Kontinuum von Zeit und Raum.” Der berühmte Islamwissenschaftler Henry Corbin nannte diese substantielle, sinngebende Welt jenseits von Zeit und Raum “mundus imaginalis”.
Jung machte auch die bahnbrechende Entdeckung, dass wir neben unserem persönlichen Unbewussten mit einem seelischen Raum verbunden sind, dem die ganze Menschheit zugehört: die Welt der Archetypen. Inzwischen gibt es Forschungen dazu wie Sand am Meer.
Es konnte nicht ausbleiben, dass diese Entwicklungen vom Kirchenchristentum mit Argwohn beäugt und schon sehr bald als “nur psychologisch” abqualifiziert wurden. Eindrückliches Beispiel dafür ist das Schicksal des Theologen, Priesters und Psychoanalytikers Eugen Drewermann, der aus der katholischen Kirche gedrängt wurde, weil er mit deren starren Dogmen in Konflikt geriet.
Eine ähnliche Aussage wie Berdjajew machte schon im 13./14. Jahrhundert der grosse Mystiker Meister Eckhart, als er predigte, der Mensch erkenne durch die von Jeshua geforderte Umkehr (Metanoia) von aussen nach innen das Reich Gottes “in” sich und erklärte: „Gott ist mir näher, als ich mir selber bin […] In welcher Seele ‚Gottes Reich‘ sichtbar wird und welche ‚Gottes Reich‘ als ihr ‚nahe‘ erkennt, der braucht man nicht zu predigen noch Belehrung zu geben.” Wen wundert’s, dass er sich gegen Ende seines Lebens einem Inquisitionsprozess unterwerfen musste und seine Lehren nach seinem Tod als “häretisch” verurteilt wurden.
Noch deutlicher formulierte diese Erkenntnis der auch in Basel lehrende Johannes Tauler, als er sagte, dass das Reich Gottes “in dem innersten, allerverbogensten, tiefsten Grund der Seele ruhe”. “Voraussetzung für die innere Gotteserfahrung ist nach Taulers Lehre ein unablässiges Bemühen um Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis ermöglicht es, die Hindernisse, die der Begegnung mit Gott entgegenstehen, abzubauen.” (Wikipedia). Dieses “Gnothi Seauton” des Apollotempels in Delphi entspricht dem Entfernen des “Balkens in unserem Auge”, wie es Jeshua ben Joseph verlangte, und dürfte so ziemlich der anspruchsvollste Weg sein, den man überhaupt gehen kann.
Haben wir uns von Koechlin mit diesen Bemerkungen weit entfernt? Mitnichten: Der Anarchist Leo Tolstoi vertrat genau diese Ansicht, als er 1894 das Buch “Das Himmelreich in euch” veröffentlichte.
Für Berdjajew steht die Chiffre “Gott” für jenen unfassbaren Urquell des Lebens in uns, den es zu erforschen gilt, und der für das grösstmögliche Geschenk an den Menschen steht: die absolute Freiheit!
“Der Mensch ist Gott nahe in der schöpferischen Freiheit seiner Persönlichkeit, er ist ihm fern in seiner Entpersönlichung. … Nur indem er mehr ist als Zoon politicon, ist der Mensch mit Gott verbunden. Dies ist die genaue Umkehrung der besonders in der deutschen Philosophie häufig vertretenen Ansicht, dass erst der Staat den Menschen über das Tier erhebe und zur sittlichen Person mache. So sagt Hegel: “Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, ja der sittliche Geist selbst, der sich denkt und weiss, dass er das ausführt, was er denkt und weiss.”
Sie ist auch die Freiheit des Menschen, der, von Gott geschaffen, aus derselben und in derselben Freiheit und der aus ihr und in ihr mitschöpferisch ist. Die Freiheit in uns, das ist jenes Element menschlicher Autonomie, über das Gott keine Macht besitzt, weil es Element der Schöpfung an sich ist. Es bedeutet höchste Verheissung eigenen Schöpfertums und grösstes Risiko zugleich. Gott kann keine Macht über die Freiheit besitzen, da diese Voraussetzung Seines eigenen Schöpfertums ist. … Doch muss sich der Mensch zwischen dem allmächtigen und dem liebenden Gott entscheiden, so schwer ihm auch diese Entscheidung fallen mag. Berdjajew ist sie gleichbedeutend mit der Entscheidung zwischen Knechtschaft und Freiheit.”
Das sind absolut revolutionäre Aussagen. Und sie haben ihren Preis: Sie bedeuten, dass wir alle radikal und grundsätzlich voll verantwortlich sind für unser Leben, und dass kein “äusserer Gott” uns hilft oder unser Leben beurteilt. Wie sie mit der Tatsache zu vereinbaren ist, dass auf dieser Welt seit Jahrtausenden soviel Leid und Ungerechtigkeit existiert, ist eine andere Frage. (Für den Schreibenden die einzig rationale Lösung für diesen Konflikt ist das Konzept der Reinkarnation und der langsamen seelischen Reifung, das in den östlichen Religionen nach wie vor gelehrt wird).
Berdjajew traf aufgrund dieser Erkenntnis eine Unterscheidung zwischen “Gemeinschaft” und “Gesellschaft”:
“Die Gemeinschaft, die dem Persönlichen entspringt, ist im Gegensatz zur politischen lebendig, schöpferisch und liebend. Existentielle Gemeinschaft baut sich nicht nach utilitaristischen, objektiven Kriterien auf. Sie entspringt subjektiver Wahrheitserkenntnis. Wo immer sie auftritt, zeugt sie vom Geist, der in die gefallene Welt der Objektivationen eintritt.
Die “Gesellschaft” dagegen, worunter Berdjajew den Staat und alles, was mit ihm zusammenhängt, versteht, ist objektivierte Gemeinschaft. Gebildet wird sie vom erstickenden Schwergewicht einer entpersönlichten Masse. In ihr triumphieren Mittelmässigkeit, Bequemlichkeit und Routine. Regiert wird sie von Macht und brutaler Gewalt. “Gesellschaft” ist Macht und Ohnmacht. Wenigen Mächtigen steht eine Vielzahl von Ohnmächtigen gegenüber. Die Mächtigen aber sind Gefangene ihrer eigenen Macht. Ein in dieser Weise mächtiger Gott wäre tatsächlich ein ohnmächtiger Gott.”
Es braucht nicht viel Fantasie zu erkennen, warum sich Koechlin von den Gedankengängen Berdjajews so angezogen fühlte: Berdjajews “Gemeinschaft” entspricht genau dem anarchistischen Ideal Koechlins! Und dass heute wenigen Mächtigen eine Vielzahl von Ohnmächtigen gegenüberstehen, brauche ich wohl nicht weiter auszuführen …
Berdjajews Erkenntnisse sind ihm nicht einfach so in den Schoss gefallen. Sie sind die Frucht eines lebenslangen Bemühens. Koechlin zitierte als Abschluss seines Artikels einen Kommentar Berdjajews dazu wörtlich. Mit dessen Analyse werden wir die Hommage an Heiner Koechlin abschliessen.
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