Wie sah Conrad Englert-Faye den Bundesbrief von 1291?
Nehmen wir doch einfach einmal Kenntnis von seiner Interpretation im 11. Kapitel des ersten Bandes. Um seinen Standpunkt klar zu machen, mute ich der geneigten Leserin und dem geneigten Leser etwas längere Auszüge zu. Sie bilden die Basis für die später nachfolgenden Vergleiche mit dem akademischen Geschichtsbild der Entwicklung der Eidgenossenschaft:
Die Gründung der Eidgenossenschaft war ihrem Ursprung gemäß, von innen her gesehen, nicht eine gewaltsame Volkserhebung, ein „revolutionärer Akt“ gegen eine zu Recht bestehende Ordnung der Dinge; der „Aufstand“ der Waldstätte war ein rechtmäßiger Widerstand gegen widerrechtliche Hoheitsansprüche und Herrschaftsgelüste des Hauses Habsburg, dessen Angehörige unpersönliche, vom Reiche übertragene Amtsgewalt unbefugt zu bleibendem Erbgut und dauerndem Eigentumsverhalt ihrer Familie machen wollten. …
Hervorragende Männer taten sich zu einem geheimen Bunde zusammen, um „ir lib und guot ze wagen und sich der herren ze erweren“. … Was zur Begründung des „Rütli-Bundes“ geführt hat, war … das „Abstoßen der illegitimen Tyrannei“, die, den Menschen vergewaltigend, Gott kränkt. …
Die Männer, die, ein jeder als der Mensch, der er war, aus freiem Willen zum „Ewigen Bund“ zusammentraten und sich wechselseitig den „Eid“ zuschworen, haben kein „Joch abgeschüttelt“, keine „Fesseln zerbrochen“, keine „Schranken gesprengt“ im heutigen banalromantischen Sinne dieser Wörter. Denn die Teilnahme am Bunde der Eidgenossen löste die Rechtsverbindungen, in welchen die Lebensverhältnisse des Einzelnen als einer „Privatperson“ verknüpft waren, nicht auf. Der Freie blieb frei, der Hörige hörig, der Fronknecht fronte fort, der Zinspflichtige zinste weiter. … Die Lebenslage und Daseinsverhältnisse des einzelnen als „Persönlichkeit N. N.“ werden nicht berührt, seine Rechte und Pflichten in nichts geändert. Nach wie vor obliegt es jedem einzelnen in seinem Lebenszusammenhange, an seinem Ort, zu seiner Zeit, auf seine Weise seine „individuelle Lebenssituation“ zu gestalten und zu bewältigen mit den Kräften, die ihm eignen, als dem Menschen, der er ist; also just das, was in neuerer Zeit Revolutionen so beliebt macht, nämlich die Hoffnung auf zeitliche Vorteile materieller Besserstellung der persönlichen Lebensverhältnisse in absehbarer Reichweite, fehlte den Neuerungen der alten Schweizer völlig.
Es ging nach Englert-Faye nicht um einen “gewalttätigen Akt revolutionären Separatismus aus der Einheit des Reichsverbandes”, sondern der Bund sei “bewusst geschaffen worden … zur Sicherung von Daseinsrecht und Lebensmöglichkeit des zu sich selbst gekommenen, auf sich selbst gestellten Menschen. … Der einzelne auf sich selbst gestellte freie Mann nahm im überkommenen Zusammenhänge aller Gewordenheiten seines Daseins aufs Mal an sich die selbständige Ausübung von solchen „sozialen Funktionen“, Machtbetätigung und Rechtswaltung, die bisher den eigens dazu ausgebildeten Organen der menschlichen Gesellschaft waren Vorbehalten gewesen, der Fürstenheit und der Adelschaft. … Was Kaiser und Reich mit Fürsten und Herren in den zersetzten Zuständen und verworrenen Verhältnissen des sogenannten „Interregnums“ nicht mehr bewältigten, das vollbrachte jetzt aus eigener Kraft, Machtvollkommenheit und Hoheit der freie Mann, der „sich selber zum Ritter gemacht“.
Als die Schwyzer während ihres Jahrhunderte dauernden Streites mit dem Kloster Einsiedeln auf Betreiben des Abtes von der Kirche in Bann, vom König in die Reichsacht getan worden waren, da verhängten sie kühnlich, als verstünde sich das von selber, ihrerseits die Acht über den Abt, indem sie dem einen Preis aussetzten, der ihnen jenen lebendig oder tot einliefere. Damit maßten sie sich das Recht der Reichsgewalt an, die bisher einzig dem Kaiser zugekommen war. … ihre Tat war die offenbare Handlungsweise der übernommenen geistigen Verantwortung des bewußtseinsmäßig mündig gewordenen Menschen für sich selber und für die Gemeinschaft. Darum auch lehnten sich die Eidgenossen weder in Werken noch in Worten auf gegen den König und Kaiser, und stellten sich nicht außerhalb des Reiches. …
Nicht direkt eine Auflehnung gegen Habsburg spricht sich in dem Bundbriefe aus. Das Große, das überaus Bedeutungsvolle und eine… nicht geahnte Tragweite in sich Fassende des Bundes besteht darin, daß sich die drei Länder damit ein neues politisches und staatsrechtliches Prinzip angeeignet haben, das bisher nur Fürsten und mächtige Städte aufgestellt und sich zu sichern gesucht hatten, das Prinzip, daß die zur Handhabung des Friedens und des Rechtes eingesetzte, aber dazu ohnmächtig gewordene Reichsgewalt nun abgelöst werden müsse durch Übertragung der Staatsgewalt auf die durch Bünde geeinte Kraft der Reichsglieder.
Ist diese Auffassung richtig, so war der Bund von 1291 in viel höherem Sinne eine Freiheitserklärung, als wenn er sich nur gegen Übergriffe der Herrschaft gerichtet hätte; er enthält den Willen, ein selbständiger Reichsstand zu sein, und er darf daher als der Ursprung der schweizerischen Eidgenossenschaft, als eines auf sich gestellten Staatswesens gelten.
In wenigen Tagen feiern wir wieder einmal den 1. August — zum ersten Mal gesamtschweizerisch 1899 ‑in Erinnerung an den Bundesbrief von 1291. Doch noch 1907 wurde in Altdorf das 600-jährige Jubiläum der Eidgenossenschaft im Beisein einer Bundesratsdelegation gefeiert: Der Chronist Aegidius Tschudi hatte deren Geburtsstunde auf den 8. November 1307 gelegt. Der Zürcher Heinrich Brennwald, dessen Chronik anfangs des 16. Jhdts. als erster Versuch einer objektiven Darstellung der Schweizer Geschichte gilt, datierte die Entstehung auf das Jahr 1332 anlässlich des Bundesbeschlusses Luzerns mit den drei Waldstätten. Der “Burgenbruch” — die gewaltsame Vertreibung der grausamen Habsburger Vögte — hat nie stattgefunden, wie der international renommierte Burgenforscher Werner Meyer zweifelsfrei nachgewiesen hat.
Weder Tschudi noch Brennwald wussten von der Existenz eines Bundesbriefs von 1291. Die Urkunde tauchte 1724 in Schwyz in einer amtlichen Archivregistratur wieder auf und wurde 1760 zum ersten Mal publiziert, war aber bis 1848 — dem Jahr dem Geburt des Schweizerischen Bundesstaates — nur Gelehrten und Archivaren bekannt.
Der Historiker Bernhard Stettler schreibt am Schluss seines ausführlichen Bundesbriefe-Artikels im gross angelegten Historischen Lexikon der Schweiz, das seit 1998 auch online zugänglich ist:
Die Vorstellung vom speziellen Charakter der eidgenössischen Bundesbriefe entwickelte sich parallel mit dem sich konkretisierenden gesamteidgenössischen Selbstverständnis. Aus der Vielzahl der spätmittelalterlichen Bünde zog man nur noch jene in Betracht, die noch Bestand hatten und bei der Identitätsfindung dienlich waren. Den alten Verträgen wurden Ziele zugeschrieben, die dem Zeitgeist und den politischen Anliegen des 15. Jahrhunderts entsprachen, ursprünglich aber nicht beabsichtigt gewesen waren. Die nunmehr «alten» Bundesbriefe ― darunter auch der 1758 (deutsche Version) wieder entdeckte von 1291 ― erhielten eine neue Bedeutung und wurden auf ein Podest gestellt, auf dem sie verblieben, obwohl sie ihre Gültigkeit praktisch verloren hatten.
Können wir also die Überlegungen und Interpretationen von Conrad Englert-Faye angesichts der widersprüchlichen Fakten getrost beiseite schieben und sie im Ordner “überholte patriotische Geschichtsbilder” der Vergessenheit anheimgeben?
So einfach ist es nicht. Dazu mehr am kommenden Donnerstag, den 5. August.
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Franz Büchler
Jul 29, 2021
Da haben sich also die Besitzenden gegenseitig abgesichert, damit ja niemand auf die Idee kommen sollte, hier irgendwie etwas zu verändern. Knechte bleiben Knechte, Hörige bleiben hörig, Kirchenleute bleiben unter der Knute der Klöster.
Irgendwie fast eine Blaupause der heutigen Schweiz? 😝