Die Vorstel­lung vom speziellen Charak­ter der eid­genös­sis­chen Bun­des­briefe entwick­elte sich par­al­lel mit dem sich konkretisieren­den gesamtei­d­genös­sis­chen Selb­stver­ständ­nis, — so der His­torik­er Bern­hard Stet­tler in seinem Artikel zu den Bun­des­briefen im His­torischen Lexikon der Schweiz.

Diese Aus­sage fand auch dieses Jahr anlässlich der 1. August-Feier ihre ein­drück­liche Bestä­ti­gung. Bun­de­spräsi­dent Guy Parmelin verkün­dete auf dem Glac­i­er 3000 im Herzen des Dia­blerets-Mas­sivs: Unser Land ist mit har­ter Arbeit, mit gegen­seit­iger Hil­fe, mit Mut und Opti­mis­mus aufge­baut wor­den. Dieses Rezept hat sich in den let­zten 730 Jahren bewährt.

Sein Parteikol­lege Roger Köp­pel stimmte eben­falls ein gross­es Loblied auf die Schweiz an, emp­fahl sie als Blau­pause für alle anderen Natio­nen und meinte, dass der Bun­des­brief von 1291 alles fes­thält, was man wis­sen muss, um die Schweiz zu ver­ste­hen, und auch um zu ver­ste­hen, was man in Zukun­ft machen muss, damit die Schweiz auch weit­ere 730 Jahre in Frei­heit und Sicher­heit Wohlfahrt, all­ge­mein­er Wohlfahrt, weit­er leben kann.

Bei­de Red­ner pfle­gen also weit­er­hin den Mythos der Entwick­lung ein­er sozusagen “embry­onalen” Schweiz, die sich über die Jahrhun­derte Schritt um Schritt zum heuti­gen Bun­desstaat entwick­elt hat, — von Anfang an darauf aus­gerichtet, sich allen frem­den Ein­flüssen zu ver­weigern und angesichts all der bösen Mächte um sie herum helden­haft um Frei­heit und Unab­hängigkeit zu kämpfen.

Das ist ein Bild, das unsere patri­o­tis­chen Gefüh­le — beson­ders angesichts der bösen EU, dem neuen Hab­s­burg!! — bauch­pin­selt. Es hat nur einen Fehler: Es hat nichts mit der his­torischen Real­ität zu tun.

Wem ist heute noch bewusst, dass sich die Eidgenossen bis weit ins 17. Jahrhun­dert hinein keines­falls als Staat und schon gar nicht als sou­verä­nen Staat erlebten, son­dern als Glied des Heili­gen Römis­chen Reich­es Deutsch­er Nation?

2007  veröf­fentlichte Bernd Mar­quardt, Pro­fes­sor für Ver­fas­sungsrecht und ‑the­o­rie, Völk­er­recht und Rechts­geschichte, ein span­nen­des und umfan­gre­ich­es Werk mit dem Titel “Die alte Eidgenossen­schaft und das Heilige Römis­che Reich (1350 — 1798). Staats­bil­dung, Sou­veränität und Son­der­sta­tus am alteu­ropäis­chen Alpen­rand.” Es ist in mehrerer Hin­sicht ein Augenöffn­er, und man stellt beim Lesen erstaunt fest, dass zum Beispiel die im Geschicht­sun­ter­richt gelehrte fak­tis­che Ablö­sung der Eidgenossen­schaft vom Reich 1499 im Nach­gang zum Schwabenkrieg und die formelle Unab­hängigkeit 1648 nach dem 30-jähri­gen Krieg so gar nicht stattge­fun­den hat. Es muss die Geschichte der Ablö­sung der Schweiz vom Heili­gen Römis­chen Reich noch geschrieben werden.

Mar­quardt legt auch gle­ich zu Beginn sein­er umfan­gre­ichen Analyse den Fin­ger auf den wun­den Punkt: (Her­vorhe­bun­gen von mir)
Ein Schlüs­sel­prob­lem der Lit­er­atur des 19. und 20. Jahrhun­derts ist darin zu sehen, dass sie ein noch nicht nation­al­staatlich geord­netes Europa mit den nation­al­staatlichen Denkstruk­turen der eige­nen Zeit zu begreifen ver­sucht hat, die dergestalt in eine ihnen fremde Epoche pro­jiziert wur­den, wo sie als ange­bliche Motive und Ziele der poli­tis­chen Akteure voraus­ge­set­zt wurden.

Alle mod­er­nen europäis­chen Nation­al­is­men weisen, auch wenn sie häu­fig in ein gegen­seit­iges Auss­chlussver­hält­nis getreten sind, eine analoge Struk­tur auf. Dazu gehören die Annahme natür­lich­er Staats­gren­zen sowie die Inter­pre­ta­tion des Gewor­de­nen als das seit jeher Gewollte und zwin­gend Vorherbes­timmte. Diese haben auch in der Schweiz­ergeschichte zur Konzen­tra­tion auf möglichst frühe Ereignisse geführt, die mythol­o­gisch aufge­laden wor­den sind. 

Von vorn­here­in wurde ein Son­der­weg voraus­ge­set­zt, und Schlüs­se­lan­nah­men wie die “fak­tis­che Unab­hängigkeit” von 1499 sowie die “formelle Unab­hängigkeit” von 1648 wur­den in den Rang absoluter Gewis­sheit­en emporge­hoben, auf die hin jedes andere his­torische Ereig­nis aus­gelegt wurde, während alle nicht mit der nationalen Loslö­sung-Sicht kom­pat­i­blen Fak­ten verbinden­der Art entwed­er aus­ge­blendet oder zum irrel­e­van­ten Tra­di­tions­bal­last deklar­i­ert wur­den.  … Aktiv han­del­nd erschien allein das nationale Sub­jekt Eidgenossen­schaft, während das Gegenüber der Ablö­sung, also das Heilige Römis­che Reich, nur pas­siv erduldend und über­haupt bemerkenswert kon­tur­los darge­boten wurde. Die Dünne des Quel­len­fun­da­ments schien angesichts der Evi­denz des nationalen Weges überspielbar.

Nicht so ganz überzeugt? — Dann wollen wir uns doch ein­mal die Geschehnisse rund um das Jahr 1499 etwas näher anschauen, — und zwar anhand der Mono­gra­phie von Wern­er Mey­erKrisen, Kor­rup­tion und Kampf­be­gierde: der poli­tis­che, ide­ol­o­gis­che und emo­tionale Kon­flik­trah­men des Schwabenkrieges von 1499”. Span­nende Lek­türe garantiert 🙂 , — und dies wie immer

am kom­menden Don­ner­stag, den 12. August.

Mor­gen wer­den wir einen Blick auf die Ideen­welt hin­ter dem Reich werfen.

Mattiello am Mittwoch 21/32
Die Reichsidee 1

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