Zurzeit sind zwei wichtige Exponenten der SVP-Abteilung für vaterländische Propaganda — Roger Köppel und Christoph Mörgeli von der Weltwoche — daran, uns Schweizerinnen und Schweizern mit Hilfe der Serie “Meilensteine der Schweizer Geschichte” etwas historischen Nachhilfeunterricht zu erteilen. Zu solchen Meilensteinen gehören — bis jetzt — die Höhlenbewohner, die Schweizer ( 🙂 ) der Altsteinzeit, der Rütlischwur, der Bundesbrief von 1291, das Löwendenkmal von Luzern, der Nationalratssaal und das Bourbaki-Panorama. Sie zeichnen das Bild einer geeinten, wehrhaften, opferwilligen und Barmherzigkeit übenden Eidgenossenschaft, — strahlendes Vorbild für alle anderen Europäer, die unter der brutalen Knechtschaft der Europäischen Union zu leiden haben.
Mit dieser patriotischen Schulterklopf-Aktion betreiben sie allerdings — man kann es nicht anders sagen — Geschichtsklitterung. Denn dort, wo wirklich Meilensteine der Schweizer Geschichte zu finden sind, gähnt bei der SVP einfach nur ein riesiges historisches schwarzes Loch … Es ist die Zeit, als nach dem selbstverschuldeten Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft, nach der Helvetik und der napoleonischen Mediationsverfassung die grosse Frage im Raum stand, wie es mit besagter Eidgenossenschaft denn nun weiter gehen solle.
Am 21. September 2009 wurde in Ouchy/Lausanne die Büste von Ioannis Kapodistrias enthüllt. Letztes Jahr
folgte sogar die Einweihung einer Allée Ioannis-Kapodistrias.
Kapodistrias!?? — Die Chance, dass ein Deutschschweizer mit diesem Namen etwas anfangen kann, dürfte etwa bei 1:10’000 stehen, — ausser man ist aufmerksamer birsfaelder.li-Leserin und Leser ;-).
Warum die Ehre für diesen griechischen Diplomaten im Dienste des russischen Zaren Alexander I.? Ganz einfach deshalb, weil Kapodistrias in den entscheidend wichtigen Jahren 1813 — 1815 mit der Unterstützung des Zaren fast im Alleingang dafür sorgte, dass die Eidgenossenschaft als unabhängiges Staatswesen erhalten blieb.
Man muss es deutsch und deutlich sagen: Nach dem Sturz Napoleons, als in Europa die politischen Karten neu gemischt wurden, zeigten sich die Eidgenossen als ein völlig zerstrittener Haufen, völlig unfähig, auch nur einen Minimalkonsens für einen politischen Neuanfang zu erreichen. Schwyz forderte Uri und Unterwalden auf, den Bund von 1315 zu erneuern. Bern arbeitete daran, mit Hilfe Österreichs die Waadt und den Aargau wieder unter seine Fuchtel zu bringen. Andere Kantone lagen sich wegen Gebietsstreitigkeiten in den Haaren.
Die Schweiz zerfiel in zwei Lager: Freiburg, Solothurn, Luzern, Zug, die drei Waldstätte und Bern betrieben die völlige Wiederherstellung der Alten Eidgenossenschaft und versammelten sich zur Gegentagsatzung in Luzern. Graubünden versuchte sich als unabhängiger Freistaat zu etablieren und die Untertanengebiete im Veltlin zurückzuerhalten. In Zürich versuchte der Bundesverein unter der Führung von Hans von Reinhard, die Grenzen und Verhältnisse der Mediationszeit in die neue Zeit zu retten. Im März drohte der Konflikt in einen Bürgerkrieg auszuarten; Bern, Waadt und Aargau mobilisierten Truppen. (Wikipedia)
Es brauchte einen massiven Druck von seiten der siegreichen Alliierten, und vor allem ein unablässiges Bemühen und eine engelsgleiche Geduld von Seiten Kapodistrias und seiner diplomatischen Kollegen, bis mit dem Bundesvertrag 1815 wenigstens eine Minimallösung für das Weiterbestehen der Eidgenossenschaft erreicht wurde.
Der Staats- und Verfassungsrechtler Andreas Kley fasst deshalb zusammen:
Die moderne Schweiz in ihrer heutigen Struktur (mit Ausnahme des neuen Kantons Jura) und ihrer territorialen Ausdehnung verdankt ihre Existenz ausländischen Interventionen, namentlich der Kapodistrias’ und des Zaren Alexander I. Auch um die Menschenrechte war es in der Zeit von 1815 schlecht bestellt: Wichtige Aspekte der Rechtsgleichheit und der Religionsfreiheit werden der Schweiz oktroyiert. Wenn sich die heutige Schweiz als ein Hort der Menschenrechte versteht, so widerspricht dieses Selbstverständnis diametral der Zeit um 1815.
Diese für ein patriotisches Heldenepos wenig brauchbaren Tatsachen führten wohl dazu, dass die Zeit der langen Tagsatzung noch heute historisch wenig erforscht und in der breiteren Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist. Vielmehr ist der Glaube verbreitet, dass die Schweiz ihre Existenz dem Wirken der drei Eidgenossen auf dem Rütli verdanke. Angesichts der prägenden Ereignisse von 1813 bis 1815 gehört dies in den Bereich der Staatsmythologie. Vielleicht hat die schweizerische Empfindlichkeit gegen ausländische Druckversuche ihre erste Ursache ebenfalls in dieser Zeit der von aussen erzwungenen Einigung.
(aus: Andreas Kley, Zum 20. März 1815: Ende der Mediationsordnung und Restauration, in: Zürich und der Wienerkongress. Erklärung über die Angelegenheiten der Schweiz vom 20. März 1815. Chronos Verlag 2015. Wer seinen ganzen höchst interessanten Beitrag lesen möchte, findet ihn hier)
Fazit: Ein Hoch auf Ioannis Kapodistrias und Alexander I., den Rettern der Schweizerischen Eidgenossenschaft! Und ein Hoch auf die Romandie, deren Söhne Charles Pictet de Rochemont und Frédéric Laharpe eng mit den beiden zusammenarbeiten!
Der Bundesvertrag von 1815 erlaubte zwar die Weiterexistenz der Schweiz als unabhängiges Staatsgebilde, aber er trug den gleichen Makel wie schon die Mediationsverfassung von 1803 auf sich: Er war ein unter ausländischem Druck zu Stande gekommener Kompromiss, der vor allem den rückwärts orientierten, reaktionären Anhängern des Ancien Régime entgegenkam. Es brauchte noch einmal fast dreissig Jahre unermüdlichen Kampfes — und einen Bürgerkrieg — , bis die Eidgenossenschaft auf eine wirklich demokratisch und stabile Grundlage zu stehen kam. Und diesmal kam der entscheidende Impuls nicht aus dem Ausland, sondern vom Arzt, Pädagogen, Philosophen und Politiker Ignaz Troxler aus Beromünster!
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Franz Büchler
Feb. 14, 2022
Als 1816 wegen des Ausbruchs des Vulkans Tambora in der Schweiz ein Jahr der Missernten herrschte, war es auch Zar Alexander I., der für die Ostschweiz 100’000 Rubel spendete, damit Nahrung beschafft werden konnte.
Und darum hat er nicht nur die Schweiz gerettet, sondern zusätzlich auch ein paar hungrige Ostschweizer Mäuler …
Siehe auch:
https://www.birsfaelder.li/wp/wirtschaft/die-menschen-grasten-wie-das-vieh/
Hans-Jörg Beutter
Feb. 14, 2022
hat glaub nid ganz gereicht, um einigen gfrässigen ostschweizern die grossmäuler nachhaltig zu stopfen
(zu denken wäre da eventuell ans ems-gelichter ;-))
louis kuhn
Feb. 14, 2022
super.
ich möchte noch mehr erfahren über die zusammenarbeit von Pictet de Rochemont und Laharpe.
louis kuhn