Wir haben gese­hen, dass Grü­nen­berg das Ver­schwinden des Indi­vidu­ums aus dem poli­tis­chen Diskurs beklagt. Er hält fest, es gebe hierzu­lande eine völ­lig unge­broch­ene Tra­di­tion, das Poli­tis­che vom Staat her zu denken, niemals aus­ge­hend vom Indi­vidu­um als poli­tis­chem Sub­jekt. In gut aris­totelis­ch­er Manier wird der Men­sch als staats­be­zo­genes Tier (Zoon politi­con) gese­hen. So wird von der jew­eils zu vertre­tenden Staat­sor­d­nung auf das Wesen zurück­geschlossen, dass diese zu tra­gen und zu ertra­gen hat. Die innere Kom­plex­ität dieses Wesens wird dabei voll­ständig aus­ge­blendet. … wir wis­sen wed­er, was ein Indi­vidu­um ist, noch was ein poli­tis­ches Sub­jekt aus­macht. Let­zteres ist natür­lich ein beson­deres Armut­szeug­nis für die Poli­tik­wis­senschaft  .…

Das führt ihn zum harschen Urteil: Denn sie wis­sen wed­er, was sie tun, noch wovon sie reden. So wagt er sich an eine eigene Def­i­n­i­tion: Poli­tis­che Sub­jek­tiv­ität ist die Fähigkeit zur Reflex­ion über öffentliche Ord­nung(Her­vorhe­bun­gen des Autors)

Das tönt auf den ersten Anhieb ziem­lich banal. Aber das ändert gle­ich, wenn man von sein­er Def­i­n­i­tion der Begriffe aus­ge­ht:
Dabei bin ich nicht von existieren­den poli­tis­chen Ord­nun­gen aus­ge­gan­gen, son­dern habe das Denkver­mö­gen unter­sucht, das es Men­schen ermöglicht, diese Ord­nun­gen über­haupt erst her­vorzubrin­gen, um an ihnen dann als Indi­viduen, poli­tis­che Sub­jek­te und schließlich „Bürg­er“ (im Gegen­satz zu Unter­ta­nen) teilzunehmen. Deshalb geht es bei den Begrif­f­en „Öffentlichkeit“ und „Ord­nung“ nicht nur darum, was jed­er von uns in der Welt schon vorfind­et, son­dern wie wir diese Konzepte in uns, denk­end und urteilend entste­hen lassen, damit wir über sie reflek­tieren kön­nen. Mit „Öffentlichkeit“ ist in der oben genan­nten Formel daher nicht nur die empirische, bürg­er­liche Öffentlichkeit gemeint, … son­dern ein Struk­tur­prinzip unseres Denkens, näm­lich wenn wir unsere Inter­essen, Wün­sche und Ide­ale in ein­er gedacht­en Öffentlichkeit disku­tieren, in der wir uns auch mit vorgestell­ten ent­ge­genge­set­zten Mei­n­un­gen kon­fron­tieren kön­nen.

Dementsprechend ist auch die „Ord­nung“, um die es in der Formel geht, nicht nur die als existierend vorgegebene, son­dern unsere eigene, gedachte und vor allem gewün­schte Ord­nung (der Wirtschaft, poli­tis­chen Herrschaft, Sit­ten, Reli­gion etc.). Denn nur wenn wir die Fähigkeit haben, uns diese Art sub­jek­tiv­er Öffentlichkeit und Ord­nung vorzustellen, kön­nen wir sie mit der realen, außer­halb von uns existieren­den Ord­nung ver­gle­ichen und unsere Zus­tim­mung oder Ablehnung in eine reale, empirische Öffentlichkeit ein­brin­gen, etwas in Form von Gesprächen, poli­tis­chen Aktio­nen, Veröf­fentlichun­gen von Büch­ern und Zeitun­gen, Fernse­hauftrit­ten und — in Demokra­tien — durch die Teil­nahme an Wahlen. Ein poli­tis­ches Sub­jekt zeich­net sich also durch die Fähigkeit aus, sich vorzustellen zu kön­nen, dass etwas anders sein kön­nte, als es aktuell ist. Mit anderen Worten, ein poli­tis­ches Sub­jekt hat einen kog­ni­tiv­en Zugang zum Konzept der Option. Wo das nicht gegeben ist, da wird nie ein poli­tis­ch­er Gedanke in einem Men­schen entste­hen kön­nen! (Her­vorhe­bun­gen von mir)

Diese Fähigkeit ist geschichtlich gese­hen eine rel­a­tiv junge Errun­gen­schaft. Über Jahrtausende wur­den gesellschaftliche Struk­turen als gottgegeben und als nicht verän­der­bar betra­chtet. Grü­nen­berg nen­nt als Beispiel das indis­che Kas­ten­sys­tem oder archais­che Stammes­ge­sellschaften, in denen alles Rit­us, Magie und zeit­lose Ord­nung ist. Selb­stver­ständlich kön­nte man auch die mit­te­lal­ter­liche Stän­de­ord­nung oder den kon­ser­v­a­tiv­en Islam anführen.

Im Gegen­satz dazu zeigte sich in Europa das kog­ni­tive Konzept der Option — das “Können”-Bewusstsein — zum ersten Mal bei den alten Griechen nach dem Sieg über die Pers­er.

Ein poli­tis­ches Sub­jekt ist  also ein Indi­vidu­um. das die Fähigkeit zur Reflex­ion über öffentliche Ord­nun­gen hat. Erin­nern wir uns: “Indi­vidu­um” und “poli­tis­ches Sub­jekt” sind die Ober­be­griffe von “Demokrat”. So fragt Grü­nen­berg weit­er:
Welch­er Spezial­fall des poli­tis­chen Sub­jek­ts passt auf den Demokrat­en und welch­es sind die Eigen­schaften, die ihn vom Nicht-Demokrat­en unter­schei­den?
Oder etwas konkreter: Wo ver­läuft die Schei­de­wand zwis­chen einem Demokrat­en, einem Pop­ulis­ten oder einem Anhänger eines total­itären Regimes, z.B. einem einem Nation­al­sozial­is­ten und Bolschewis­ten? Oder sind Pop­ulis­ten ein­fache eine etwas spezielle Sorte von Demokrat­en?

Welche birsfaelder.li-Leserin resp. welch­er Leser wagt einen Vorschlag zu unter­bre­it­en? Das Geheim­nis von Regi­nald Grü­nen­bergs Antwort wird in der näch­sten Folge am kom­menden Fre­itag, den 25. Feb­ru­ar gelüftet.

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