Im Zuge der Holocaust-Erinnerung hat sich auch Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel in seinem neuesten Editorial mit dem Jahrtausendverbrechen auseinandergesetzt, indem er an das Buch des Historikers Laurence Rees “The Holocaust: A new history” anknüpfte. Ian Kershaw, seinerseits berühmt geworden durch seine zweibändige fundierte Hitlerbiographie, hat das Buch in höchsten Tönen gelobt — es muss also die Lektüre sehr wohl lohnen.
In seinem lesenswerten Text führt Köppel unter anderem aus: “Die Vorstellung, die Nazis seien besonders amoralische oder verbrecherische Menschen gewesen, schafft uns Heutigen, die mit Schaudern in den Abgrund blicken, das wohlige Gefühl erhabener Distanz. Im Spiegel der Scheusale, Monster und Teufel erleben wir uns selber als das ganz andere, als moralisch überlegen, sozusagen imprägniert und immun gegen das Böse, das sich damals von Deutschland aus über die Welt verbreitete. Vielleicht sollten wir diese selbstschmeichlerische Illusion aufgeben. Die Nazis waren keine Ausserirdischen, die wie eine biblische Plage übers Land fegten. Die Vollstrecker des Holocaust kamen aus allen Etagen der Gesellschaft. An der Wannseekonferenz in Berlin, wo 1942 die «Endlösung» der Judenfrage bei Cognac entschieden wurde, sassen kultivierte Doktoren und Akademiker mit hohem IQ am Tisch. Sie würden heute indigniert die Nase rümpfen über das schlechte Benehmen und den miserablen Musikgeschmack der Jugendlichen. Die beunruhigendste und wichtigste Lehre aus Auschwitz ist, dass niemand sicher sein kann, dass nicht auch er oder sie in Wannsee mit am Tisch gesessen wäre. Macht korrumpiert, und mächtige Diktaturen korrumpieren absolut. Niemand ist immun. Jeder Mensch ist verführbar. …”
Dass wir alle in unserer Psyche einen Schattenaspekt tragen, ist seit C.G. Jung zu einem Gemeinplatz geworden, — und wird gerade deshalb oft verdrängt und nicht mehr ernst genommen. Projektionen — insbesonders auf der politischen Ebene — feiern fröhliche Urständ, — siehe “die mutige USA” gegen “die Achse des Bösen” … Hannah Arendt zeigte in “Die Banalität des Bösen” auf, warum durchaus “ehrenwerte Bürger” sich in die Nazi-Todesmaschinerie hineinziehen liessen. Sogar profunde Köpfe wie Martin Heidegger huldigten dem neuen Messias.
Auch der Feststellung Köppels, dass unbeschränkte Macht in der Regel korrumpiert, ist sicher beizustimmen. Doch wenn er dann hinzufügt: “Niemand ist immun. Jeder Mensch ist verführbar”, geht er zu weit. Verführbar ist, wer sich seinen eigenen Schattenaspekten nicht stellt und sie unbewusst in Projektionen ausagiert. Nicht verführbar ist, wer seine Hausaufgaben in dieser Hinsicht gemacht und deshalb ein feines Sensorium für falsche Propheten entwickelt hat. In dieser Hinsicht ist Wilhelm Reichs “Massenpsychologie des Faschismus” nach wie vor höchst aktuell.
In meinem Geschichtsunterricht las ich bei der Behandlung des Nationalsozialismus mit der Klasse jeweils Gedichte und Lobeshymnen auf Hitler in einem “Zigarettenbuch” aus dem Jahre 1933, das ich von meinen Schwiegervater, der in der US-Army mitgekämpft hatte, als Dokument geschenkt erhielt. Darin wurde die Faszination für Hitler, der Millionen Deutsche erlagen, zutiefst spürbar. Wie beim Rattenfänger von Hameln liefen sie mit dem falschen Propheten in den Untergang in der Meinung, das in der Bibel verheissene “Tausendjährige Reich” zu erleben. Köppel: “In seinem Buch zeichnet Laurence Rees die Geschichte dieser Korrumpierung, die auch eine Verführung war, erschütternd nach. Der Holocaust war ein stufenartiger Prozess mit zahlreichen Drehungen und Wendungen, eine Art schleichende, zuletzt dann sprungartige Eskalation des Bösen, die von den Beteiligten gar nicht unbedingt als böse empfunden wurde. Hier liegt das zweite grosse Missverständnis: Die führenden Nazis und vermutlich viele ihrer Untergebenen waren kaum der Meinung, ein Verbrechen zu begehen. Sie waren überzeugt, sie glaubten, redeten sich ein, sie wären Teil eines grossartigen, wenn auch weithin noch unverstandenen Projekts der Menschheitsreinigung, der planetarischen Rettung.”
Auch dieser Beobachtung ist zweifellos zuzustimmen. Doch in seinem Editoral subtil versteckt ist noch eine weitere Botschaft, wenn er schreibt: “Der Fall Hitler zeigt allerdings die ewige Verführbarkeit der Menschen – nicht nur der Deutschen durch fanatisierte Propheten, die vorgeben, den Weltuntergang abzuwenden. Ihre endzeitlichen Visionen und Erlösungsversprechen vermögen wenigstens für eine gewisse Dauer die Fantasie der Leute zu fesseln und hochzupeitschen. … Auschwitz war das Produkt eines ideologischen Zeitalters. Auschwitz steht für den «Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft», wie der Philosoph Hermann Lübbe formulierte.”
Honni soit, qui mal y pense, — aber ich werde den Eindruck nicht los, dass Roger Köppel als grosser Bewunderer von Donald Trump und als virulenter Gegner jeglicher “Klimahysterie” hier auf die heutigen “Weltuntergangspropheten” — d.h. die weltweite Forschungsgemeinschaft zum Klimawandel — anspielt und sie so wieder einmal als Gesinnungstäter und haltlose Ideologen zu entlarven versucht. Wenn dem tatsächlich so wäre: Schade für seine wertvollen Überlegungen zum Thema Holocaust .…
Franz Büchler
Feb 1, 2020
Macht korrumpiert sagt der Herr Köppel.
Sei es nun die Macht eines Poltikers, oder eines Verlegers. Oder beides.
Christoph Meury
Feb 5, 2020
Ganz unwidersprochen kann man diese schnelle Analyse nicht lassen. Grundsätzlich problematisch: Beide Autoren versuchen die Komplexität der Situation und des historischen Kontextes auf ein paar Merksätze und rudimentäre Grundeinsichten zu reduzieren. Wieso sich Menschen dem Nazitum verschrieben haben bleibt komplex und mehrschichtig. Vielleicht auch schwer nachvollziehbar. In zwei Sätzen kann man den Weg bis zur Endlösung und dem Total-Crash einer faschistischen Erlösungsidee und dem Gewürge um den neuen Menschen nicht explizieren. Mit C.G. Jung, dem Allerweltserklärer und Psychopapst ganzer Generationen, kommen wir der Sache, auch wer sich einer mehrjährigen Analyse unterzogen hat, ebenfalls nur in winzigen Teilaspekten näher. Man muss zum näheren Verständnis sicher die Spaltung der damaligen Gesellschaft, den historischen Kontext, die Wirtschaftslage, aber auch die Fremdenfeindlichkeit, den Rassismus, den Führerkult, den Paramilitarismus, den herrschenden Nationalismus, den Stellenwert des Patriarchats, die vorherrschenden Niedergangsfantasie, die Pflege der permanenten Opferrolle und einer allgemeinen Demokratiefeindlichkeit genauer untersuchen, um zu sehen auf welchem Nährboden die ganze Entwicklung stattgefunden hat. Um die Psychologie der Nazis und sämtlicher Neofaschisten besser zu verstehen lohnt sich auch die Lektüre von Klaus Theweleits «Männerfantasien«.
Köppel ist mir mit seiner populistischen These, dass Macht korrumpiert und ergo alle Menschen grundsätzlich gleichermassen verführbar sind (ein faktisch nicht belegbarer Hüftschuss), zu simpel. Da Köppel mit der Weltwoche selber immer am zündeln ist, sollte er sich vielleicht selbstkritischer hinterfragen, ob er nicht allfällig Teil der Entwicklung ist, welche die Ausgrenzung ganzer gesellschaftlichen Gruppen aktiv bewirtschaftet, dem Führerkult huldigt, etc. und damit mit Sicherheit Teil des Problems, aber logischerweise nicht Teil der Lösung ist.
Wie gesagt, die Sache ist und bleibt komplex…