Wir sind uns heu­te in der Schweiz an ein gut funk­tio­nie­ren­des föde­ra­ti­ves Sys­tem so gewöhnt, dass es schwer­fällt sich klar­zu­ma­chen, wie umstrit­ten und heiss umkämpft Ende des 19. Jahr­hun­derts die Fra­ge, ob ein kon­fö­de­ra­ti­ves (Staa­ten­bund) oder ein föde­ra­ti­ves Modell (Bun­des­staat) der Bevöl­ke­rung mehr Frei­heit und Sicher­heit brin­gen wür­de, in den zukünf­ti­gen Ver­ei­nig­ten Staa­ten war. Da sich die­se Fra­ge auch in Euro­pa frü­her oder spä­ter immer drän­gen­der stel­len wird, lohnt sich ein ver­tief­ter Blick in die dama­li­ge Dis­kus­si­on in der Neu­en Welt.
(sämt­li­che Zita­te aus “Maja Breu­er. Welt­fö­de­ra­ti­on. Modell glo­ba­ler Gesell­schafts­ord­nung”. blau: Zita­te Hamiltons)

Wel­che Argu­men­te brach­ten damals die Kon­fö­de­ra­lis­ten vor, die der ver­fas­sungs­ge­ben­den Ver­samm­lung in Phil­adel­phia vor­war­fen, sie sei von den 13 unab­hän­gig gewor­de­nen Staa­ten gar nicht ermäch­tigt wor­den, eine föde­ra­ti­ve Ver­fas­sung zur Dis­kus­si­on zu stel­len, son­dern sie habe ledig­lich die Berech­ti­gung für eine Reform der Kon­fö­de­ra­ti­ons­ar­ti­kel gehabt?
Hier ein paar Hauptargumente:
Eine Rege­lung der gemein­sa­men Ange­le­gen­hei­ten und die Besei­ti­gung von Miss­stän­den ist auch ohne eine die staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät antas­ten­de Orga­ni­sa­ti­on möglich.
Eine gemein­sa­me Regie­rung wür­de die Eigen­stän­dig­keit der Glie­der immer mehr antas­ten bis hin zur mas­si­ven Beschnei­dung der Frei­heit der ein­zel­nen Bür­ge­rin­nen und Bürger.
Die föde­ra­ti­ve Ver­fas­sung ist das Pro­jekt einer abge­ho­be­nen rei­chen Eli­te als Mit­tel zur Unter­drü­ckung der ein­fa­chen Leute.
Die Ver­schie­den­heit der gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se in den ein­zel­nen Staa­ten macht eine allen gerecht wer­den­de über­ge­ord­ne­te Regie­rung unmöglich.

Dass die­se Befürch­tun­gen der Anti-Föde­ra­lis­ten nicht ganz aus der Luft gegrif­fen waren, zeig­te sich beim letz­ten Punkt: Er führ­te ange­sichts der gros­sen sozia­len und wirt­schaft­li­chen Unter­schie­de zwi­schen den Nord- und Süd­staa­ten direkt zum gros­sen Bür­ger­krieg 1861–1865.

Alex­an­der Hamilton

Die Föde­ra­lis­ten ihrer­seits muss­ten eine gan­ze Rei­he über­zeu­gen­der Argu­men­te fin­den, um die Bevöl­ke­rung für die­ses neu­ar­ti­ge und noch nie dage­we­se­ne poli­ti­sche Expe­ri­ment zu gewinnen.
Die wohl umfas­sends­te und und am meis­ten sys­te­ma­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den Ein­wän­den der Föde­ra­ti­ons­geg­ner fin­det sich in einer Serie von 85 Zeit­schrif­ten­ar­ti­keln, die mit Publi­us unter­zeich­net waren. (…) Ihre Autoren waren Alex­an­der Hamil­ton (1757–1804), Adju­tant und Pri­vat­se­kre­tär Geor­ge Washing­tons zur Zeit des Unab­hän­gig­keits­kriegs und spä­ter Finanz­mi­nis­ter wäh­rend des­sen Prä­si­dent­schaft, James Madi­son (1751–1838), einer der lei­ten­den Archi­tek­ten der neu­en Ver­fas­sung und spä­ter zwei­ter Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, und John Jay (1745–1829), der zusam­men mit Ben­ja­min Fran­k­lin als Unter­händ­ler in den Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit Eng­land her­vor­ge­tre­ten war.

Sie konn­ten zuerst ein­mal auf den gros­sen Schwach­punkt der bestehen­den Kon­fö­de­ra­ti­on hinweisen:
Der Kon­gress der Kon­fö­de­rier­ten hat­te nicht die Auto­ri­tät, sei­ne Beschlüs­se durch­zu­set­zen. Säu­mi­ge Bei­trags­zah­ler konn­ten nicht zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Die Geschich­te der ame­ri­ka­ni­schen Liga ver­an­schau­lich­te für Hamil­ton, daß die Bestim­mun­gen des Kon­gres­ses nicht durch­ge­führt wur­den und die Pflicht­ver­let­zun­gen der Staa­ten immer gra­vie­ren­der wur­den, bis die Räder einer gemein­sa­men Poli­tik ganz zum Still­stand kamen. Die Staa­ten, die den Ansprü­chen des Kon­gres­ses am zöger­lichs­ten nach­ka­men, lie­fer­ten den bereit­wil­li­ge­ren ein schlech­tes Bei­spiel und einen guten Vor­wand, gleich­falls nur den eige­nen unmit­tel­ba­ren Inter­es­sen zu fol­gen: “War­um sol­len wir mehr tun als ande­re, die mit uns poli­tisch im glei­chen Boot sitzen?”

Doch die Autoren hat­ten sich noch viel grund­le­gen­de­re Über­le­gun­gen gemacht.
● Hamil­ton: “Anzu­neh­men, daß zwi­schen einer Anzahl von ein­an­der benach­bar­ten unab­hän­gi­gen, sou­ve­rä­nen Staa­ten auf die Dau­er Ein­tracht herr­schen könn­te, hie­ße die mensch­li­che Natur außer acht las­sen und den Erfah­run­gen der Geschich­te Hohn spre­chen.” Da hät­te er gleich ein paar Bei­spie­le aus der Geschich­te der Eid­ge­nos­sen­schaft zitie­ren können …
● Die­se mensch­li­che Natur äus­sert sich in Macht­stre­ben, Kon­kur­renz, Eigen­in­ter­es­sen und “Lei­den­schaf­ten der füh­ren­den Män­ner.” War­um wer­den über­haupt Regie­run­gen ein­ge­setzt? Weil die Lei­den­schaf­ten des Men­schen sich nicht ohne Zwang den Gebo­ten der Ver­nunft und der Gerech­tig­keit fügen wol­len. Hat die Erfah­rung gelehrt, daß sich Gemein­we­sen eher von Red­lich­keit und Selbst­lo­sig­keit lei­ten las­sen als der ein­zel­ne Mensch? Das Gegen­teil ist von allen auf­merk­sa­men Beob­ach­tern des mensch­li­chen Ver­hal­tens fest­ge­stellt worden …
● Eine Ände­rung sol­chen Ver­hal­tens ist ohne die Bil­dung einer gemein­sa­men Regie­rung nicht möglich. 
Eine Inter­es­sens­ge­mein­schaft von Staa­ten, die im Kon­gress die Mehr­heit haben, könn­te mit Par­tei­lich­keit und Unter­drü­ckung gegen ande­re Staa­ten einhergehen.
● In einer Kon­fö­de­ra­ti­on kann bei einer Rebel­li­on ver­fas­sungs­feind­li­cher Kräf­te in einem Staat die zen­tra­le Auto­ri­tät “man­gels jeder Voll­macht zum Ein­grei­fen, nur ent­rüs­tet und bedau­ernd zuse­hen”.Das Ent­ste­hen einer Des­po­tie in einem mäch­ti­gen Staat aber bedeu­tet eine ver­stärk­te Bedro­hung der Frei­heit der ande­ren Staaten. 
● Falls ein Staat oder eine Grup­pe von Staa­ten sich gegen Beschlüs­se des Kon­fö­de­rier­ten-Kon­gres­ses stellt, wür­de ein mili­tä­ri­sches Ein­grei­fen der andern unwei­ger­lich das Ende der Kon­fö­de­ra­ti­on bedeuten.
● Das Prin­zip “Ein Staat — eine Stim­me” bringt mit sich, daß eine Mehr­heit klei­ner Staa­ten über weni­ge gro­ße und bevöl­ke­rungs­rei­che Staa­ten ent­schei­den kann. Hohe Mehr­hei­ten oder gar Ein­stim­mig­keit bei allen Ent­schei­dun­gen schafft kei­ne Abhil­fe. Damit wird wie­der­um die Dik­ta­tur der Min­der­heit über die Mehr­heit begrün­det. Die Mehr­heit muß sich, “damit über­haupt etwas getan wer­den kann, den Ansich­ten der Min­der­heit fügen”. Ent­schei­dungs­pro­zes­se wer­den durch das Ein­stim­mig­keits­prin­zip in absur­der Wei­se verzerrt.

Die Mehr­heit (des männ­li­chen Anteils) der ame­ri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung liess sich von den Argu­men­ten der Föde­ra­lis­ten über­zeu­gen, und die Bei­fü­gung der zehn Arti­kel der Bill of Rights zur neu­en Ver­fas­sung — dar­un­ter das Recht zum Waf­fen­tra­gen — ver­rin­ger­te schliess­lich den Gra­ben zwi­schen Anti-Föde­ra­lis­ten und Föderalisten.

Die neue Ver­fas­sung leg­te die Grund­la­gen für den bei­spiel­lo­sen Auf­schwung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu einer kul­tu­rel­len und wirt­schaft­li­chen Super­macht, die bis vor kur­zem die Welt­po­li­tik domi­nier­te. Doch seit Län­ge­rem ist der “strah­len­de Lack” an “God’s own coun­try” ziem­lich abge­blät­tert. Taugt das ame­ri­ka­ni­sche poli­ti­sche Modell über­haupt noch als Vorbild?

Dazu mehr kom­men­den Frei­tag, den 14. Januar

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