Du musst ein Stück der Passstrasse nach, und dann bei der Waldhütte rechts abbiegen, sagt dir der bärtige Mann mit dem Hund an der Endstation des Postautos, nachdem du gefragt hast, wo es hier zum Bergsee geht. Du tust, wie er dich geheissen hat, steigst dann einen Fahrweg zu einem Maiensäss hinauf, der einmal durch einen alten Tunnel führt, nach dem Maiensäss wird der Pfad schmaler, ein Wanderweg, der über ein Band am Fuss einer schier endlosen Felswand führt, mit grandiosen Ausblicken in die Tiefe des Bergtals, aus dem du gekommen bist, oft fällt auch unter dem Pfad eine Felswand ab, und du hältst dich, mit Schwindel kämpfend, mit der linken Hand an einem fixen Seil, siehst vor dir eine Bergkette, über die nun langsam Gewölk aufzieht, gelangst endlich zum Ende der Felswand und steigst nun eine Schneise hoch mit uralten hohen Fichten, deren Wurzeln und Stämme mit Moos und Flechten überzogen sind, dazwischen wächst üppiges Gras, und du hörst auf einmal Glocken bimmeln, da muss also eine Alp in der Nähe sein, und einzelne Waldkühe drehen ihre Köpfe nach dir um, du blickst auf die Uhr und siehst, dass du vor bloss vier Stunden noch in der Stadt warst, im Morgengewühl eines Hauptbahnhofs, wirst dir auch bewusst, dass du seit dem bärtigen Mann mit dem Hund niemanden mehr gesehen hast, und denkst mit einem plötzlichen Glücksgefühl, das ist die Schweiz, das ist die Schweiz, steigst höher und höher, ohne die Alp zu erblicken, zu der die weidenden Kühe gehören, und stehst schliesslich am einsamen Bergsee, über dem ein Nebel liegt, der das andere Ufer verhüllt, in Erwartung der Stille, die dir als Lohn für deine Wanderung zusteht, doch die wird gestört vom Knattern eines Motors und von wirren Rufen, und langsam taucht ein Schlauchboot auf, übervoll mit dunkelhäutigen Menschen, die dich ungläubig und hilfesuchend anschauen und mit den Händen fuchteln, von Strapazen gezeichnet, am Bug steht ein Mann in einem langen, weissen Gewand, wirft dir, als das Gefährt näherkommt, ein Seil zu, und du kannst nicht anders als es mit beiden Händen zu packen, und du ziehst das schwer beladene Boot an Land, an dein Land, das mitten in Europa liegt.
Franz Hohler, geboren 1943 in Biel, lebt mit seiner Frau in Zürich und schreibt Erzählungen, Romane, Gedichte, Theaterstücke und Kinderbücher. Zuletzt wurden von ihm veröffentlicht: Ein Feuer im Garten (kurze Texte, 2015), Die Nacht des Kometen (Erzählung für Kinder, 2015), Gleis 4 (Roman, 2013).
Der Text wurde uns unentgeltlich vom Netzwerk »Kunst+Politik« zur Verfügung gestellt. Alle Texte zum Thema »Nach Europa« sind hier zu finden. Das Titelbild ist von Ruedi Widmer.