Am 22. Januar 1905 kam die Nachricht, daß die Arbeiter der Putilowwerke in St. Petersburg mit dem Popen Gapon an der Spitze vor das Palais des Zaren gezogen seien, um «Gerechtigkeit von dem Zaren gegen die Kapitalisten zu verlangen, die ihnen ihr Recht verweigerten».
Auch stund in der Zeitung, der Zar habe die Gerechtigkeit in der Form erwiesen, daß er die Arbeiter zusammenschießen ließ. Das Sonderbare, das Eigenartige, das Großartige, das ganz Unerwartete war der Ausbruch des Generalstreiks in ganz Rußland als Antwort auf diese Metzelei. Vom Eismeer bis in den Kaukasus revoltierte das ganze Volk.
Rußland erwachte, alle Schichten erwachten, und verlangten politische Reformen. Alles streikte, sogar die Dienstmädchen im Kaukasus. Ueberall verlangten die Arbeiter Verbesserungen ihrer Lage, und ein Teilstreik folgte auf den andern im ganzen Reich herum. Die Bürger und die feudalen Liberalen forderten Freiheit und Konstitution.
So schilderte Fritz Brupbacher den berüchtigten “Petersburger Blutsonntag”, — ein erster Vorbote der grossen revolutionären Erschütterung 1917, und er hoffte, dass dies Ereignis sich auch im restlichen Europa auf die Politik der Arbeiterbewegungen auswirke. Seit Jahren standen sich nämlich zwei Lager gegenüber:
● Eine orthodoxe marxistische Schule, zu der auch die sozialdemokratische Partei in der Schweiz gehörte. Sie lehnte Ideen wie “Generalstreik” oder “direkte Aktion” ab und hegte ein starkes Vertrauen sowohl auf die Ausbaufähigkeit der politischen Demokratie, als namentlich auch die Überzeugung einer schrittweisen Zurückdrängung des Kapitalismus und seiner organischen Ersetzung durch den Sozialismus.
Brupbacher spottete über die Diskrepanz zwischen revolutionären Parolen und zahnloser Praxis: Der Werktag hob die Revolution des Sonntags auf. Da war man für die bürgerliche Familie, war dafür, dass man das Vaterland verteidige und dass jedermann sich brav einordne, bis das Kollektiv in Volksabstimmung etwas anderes beschlösse. Man war ein guter Demokrat mit arbeiterlichem Einschlag.
● Eine vor allem in den Gewerkschaften lebendige Strömung, die Streiks als wirkungsvolle und legitime Mittel zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft betrachtete, bis hin zur Ausrufung eines Generalstreiks als “ultima ratio”. Als in Zürich 1904 ein Streik in der Eiskastenfabrik Schneider eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit auf 58 Stunden und die Festsetzung eines Minimallohns verlangte, organisierte der Schreinermeisterverein vom Lande her Streikbrecher. Die Arbeiter antworteten mit dem Aufstellen von Streikposten, worauf der Stadtrat ein Streikpostenverbot erliess. 1906 wurde ein Streik in der Automobilfabrik Arbenz sogar mit einem Militäraufgebot niedergeschlagen. Ein Freund Brupbachers, Max Tobler, hat dazu eine höchst anschauliche Schilderung (ab p. 5) verfasst.
Die Folge war, dass Gewerkschafter zum ersten Mal die Idee eines Generalstreiks ins Auge fassten.
Bis dahin hatte niemand vom Generalstreik als konkreter Möglichkeit sprechen können, ohne als Anarchist abgestempelt und damit in der Arbeiterbewegung politisch erledigt zu sein. Diese Zeiten waren vorbei. Die Partei- und Gewerkschaftsspitzen nahmen die Entwicklung mit Sorge und Unbehagen zur Kenntnis. Das “Volksrecht” sprach von einer einer “ernsten Wendung” und machte die “Hetzer des Gewerbeverbands” und die Polizei allein dafür verantwortlich. Der Redaktor qualifizierte einen Generalstreik als “Katastrophe, die verheerend über unser ganzes wirtschaftliches und öffentliches Leben hereinbrechen müsste” und schloss seinen Kommentar mit den ominösen Worten: “Wir waschen unsere Hände in Unschuld”.
Als 1905 erneut in Zürich 4000 Maurer gegen den Willen der Gewerkschaftsspitzen in den Streik traten, erhob sich ein heftiger Kampf zwischen denen, die für die Disziplin unter allen Umständen, die für den Kadavergehorsam waren, und zwischen der denkenden und freiheitlichen Schicht der Arbeiterschaft. An den wilden Diskussionen beteiligte ich ich mich natürlich eifrig auf der Seite der Denkenden und Freiheitlichen und wurde dabei aufs heftigste von einem jungen,nicht überbescheidenen Burschen angepöbelt, der sich aufs heftigste entrüstete, daß ich es wagte, die Disziplin der S. P. zu brechen, und den andern riet, es auch zu tun.
Dieser Bursche war — er hat es mir später selber erzählt — Karl Radek, den damals noch niemand kannte. Er war nicht der einzige marxistische Sünder, der auf die Seite der regierenden Partei- und Gewerkschaftsbürokraten sich stellte. Unendlich viele von denen, die später Bolschewiki wurden, haben in jener Phase der Bewegung mit der Parteibürokratie zusammen alle revolutionären Angriffe der Arbeiterschaft abgeschlagen. Sie erzogen die Arbeiterschaft systematisch zur Inaktivität, zerschlugen mit Bewußtsein alle Initiative, die sich im Proletariat zeigte, sind dadurch zu Mitschuldigen an der Niederlage der Arbeiterschaft im Kampfe gegen den Faschismus geworden.
Und Brupbacher schloss mit dem bitteren Urteil:
Manchmal schien es einem, der Wille zur Macht über das Proletariat sei in den Führern des Sozialismus stärker gewesen als der Wille zur Macht über die Bourgeoisie.
Und da dem so war, gab es genügend Arbeit für unsereinen, der da meinte, daß nur die volle Entfaltung aller Kräfte in allen einzelnen auch tapfere und aufopferungsfähige Streiter erzeuge.
Im Sommer 1905 reiste Brupbacher mit Lydia Petrowna zur Erholung auf die Insel Jersey und anschliessend in die Bretagne, wo er zwei herausragende Vertreter eines freiheitlichen Sozialismus kennenlernte: Peter Kropotkin und James Guillaume. Dieser wichtigen Begegnung ist die nächste Folge gewidmet, und dies wie immer
am kommenden Samstag, den 19. März.