Das würde ja heissen, dass wir seit Jahren auf dem Wege der Unvernunft sind. Heisst das für den Leserbriefschreiber denn, dass die Bilateralen I, II und III die reine Unvernunft sind? Kann er sich überhaupt vorstellen, wie die Schweiz ohne die Unvernunft heute aussehen könnte?
Ein paar Punkte möchte ich etwas anschauen …

• Die Schweiz bewegt sich allmählich wieder hin zur Vernunft
Nicht klar in Richtung wessen Vernunft. Meine Vernunft sagt mir, dass das Paket EU-Schweiz sehr vernünftig ist. Man muss es aber auch ein bisschen angeschaut haben, darin gelesen haben … und nicht nur die Parole »Unterwerfungsvertrag« der SVP aufgeschnappt haben. Aber wie immer: Vernunft ist meine Vernunft.
• Viele kleinere KMU-Betriebe, die die eigenständige Schweiz gross und finanzstark gemacht haben
Wir kennen die KMU-Keule zur Genüge. Es sind die Betriebe, die ihre Steuerzahlungen so gut optimieren können (Löhne der Chefs, Dividenden, etc.), dass am Schluss kaum ein steuerbarer Gewinn herausschaut.
Und wenn wir es schon mit den Steuern haben: Mit USR I, USR II, USR III und STF17 haben kleine wie grosse Betriebe am Schluss gewonnen — nicht die Schweiz …

Oder wie es Matthias Zehnder in einer seiner Kolumnen treffen sagte:
»Nun ist es nichts Neues, dass das Fressen vor der Moral kommt.
Neu ist, wie unverhohlen (und unverfroren) auf das Recht, zu fressen, gepocht wird.«
• dass wir unser mehr als hundertjährige, einzigartige und bewährte Demokratiesystem einfach so aufgeben
Europa setzt sich für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ein und verteidigt das multilaterale System. Die Schweiz profitiert enorm davon.
Klar ist, dass ein gemeinsamer Markt gemeinsame Regeln braucht, die für alle Beteiligten gleichermassen gelten. Man kann es sich wie UNO-Spielen vorstellen. Wer sich an den Tisch setzt und UNO spielen möchte, kann nicht verlangen, nach den Jass-Regeln mitzuspielen.
Die direkte Demokratie ist in der Schweizer Verfassung fest verankert und kein EU-Abkommen kann sie aushebeln. Selbst bei der dynamischen Übernahme von EU-Recht hat das Schweizer Parlament stets das letzte Wort, und das Volk kann dieses über Referenden korrigieren. Neu gelten klare Spielregeln, wie die EU darauf reagieren kann, wenn die Schweiz ein Gesetz nicht dynamisch übernehmen will: Massnahmen müssen auf die bilateralen Abkommen beschränkt und verhältnismässig sein.
Die direkte Demokratie wird sogar gestärkt, weil die Schweiz neu an der Ausarbeitung von EU-Recht mitarbeiten kann und ihre Interessen von Anfang an einbringen kann. Der Bundesrat kann also beispielsweise für die Schweiz wichtige Aspekte einbringen (wie z.B. 2017 beim Schengen-Waffenrecht) oder frühzeitig Ausnahmen (z.B. beim Lohnschutz) aushandeln. Die Bilateralen III bedeuten mehr Demokratie, nicht weniger.
Die Gegner des Pakets EU-Schweiz (Bilaterale III) fordern immer wieder für eine Abstimmung über die Verträge das Ständemehr. Da aber kein Kanton durch die Verträge bevorzugt oder benachteiligt wird, ist das Ständemehr dafür nicht angezeigt. Es wäre absolut undemokratisch, die kleinen Kantone zu bevorteilen.

• klaren Selbstbestimmung, Neutralität und geringer Verschuldung
Sotomo führt den Barometer »Zusammenhalt in der Schweiz« im Auftrag von Feldschlösschen durch. Es handelt sich um eine repräsentative Umfrage unter 2787 Personen ab 18 Jahren. Daraus:
Die Souveränität wird in der politischen Arena zwar immer noch ganz heiss diskutiert. Bei der Bevölkerung ist diese Frage etwas weniger zentral.
International steht die Schweiz für Neutralität und ist bekannt als Vermittlerin dank ihrer guten Dienste. Doch die Umfrage zeigt: Für das Selbstbild der Schweizerinnen und Schweizer sind diese Aspekte weniger wichtig. Die Neutralität und die guten Dienste werden gar von den wenigsten als Ideal der Schweiz genannt (30 %).
Für eine Verschuldung der Schweiz ist die Schweiz selbst zuständig, nicht die EU. Dafür haben wir ja die manchmal unsägliche Schuldenbremse …
• Die kleine Schweiz als ehrliche Friedensvermittlerin ist wesentlich mehr wert als eine Schweiz als wertlose Mitläuferin der verschuldeten EU.
Vorerst einmal sei gesagt, dass dieses SVP-Geschwätz nichts mit dem Paket EU-Schweiz (Bilaterale III) zu tun hat. Aber es macht sich natürlich immer gut, auch ohne Argumente über den Vertrag zu schimpfen.
In Sachen gute Dienste scheint mir die Schweiz eher zurückhaltender zu sein als auch schon. In keinem der laufenden Kriege und Konflikte hat sie sich bis jetzt durch besondere Aktivitäten hervorgetan.
• wachsende Gegnerschaft zum Unterwerfungsvertrag
Schon eingangs wurde auf eine wachsende Gegnerschaft gehofft.
Ob das wirklich so ist?
• Wir wollen keine fremden Vögte und Richter
Das Geschrei von «fremden Richtern» ist purer Populismus, weil es sie nicht gibt und der Begriff etwas vorgaukelt. Bisher wurden Streitigkeiten mit der EU politisch ausgetragen. Es galt die Macht des Stärkeren statt die Macht des Rechts. So warf die EU die Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon oder verwehrte die Anerkennung von MedTech-Produkten. Mit den Bilateralen III kann die Schweiz nun ihre Interessen auf dem Rechtsweg durchsetzen. In den Bilateralen III haben die Schweiz und die EU endlich klare rechtsstaatliche Verfahren definiert, was in Streitfällen passiert.
Sind sich die Schweiz und die EU uneinig darüber, wie ein Abkommen ausgelegt werden soll, wird zuerst in einem gleichberechtigt besetzten gemischten Ausschuss eine Lösung gesucht. Ohne Einigung geht der Fall an ein paritätisches Schiedsgericht (z.B. 1 CH-Richter*in, 1 EU-Richter*in + 1 unabhängiges Präsidium) weiter. Diesem Schiedsgericht unterliegt die Auslegung der bilateralen Verträge. Geht es bei der Streitfrage um die Auslegung von EU-Recht selbst, wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) konsultiert. Ganz nach dem Motto gleiche Spielregeln für alle: Der EuGH ist das Gericht des gemeinsamen europäischen Binnenmarkts, seine Beurteilung richtet sich nicht für oder gegen die Schweiz, sondern gilt für alle Mitgliedstaaten der EU und auch des EWR.
• Ein von links geführtes Schmarotzertum hat noch kein einziges Land erfolgreich überlebt.
Heisst das nun, die EU führe ein linksgerichtetes Schmarotzertum? Obwohl kein EU-Land eine linke Regierungsmehrheit hat? Einfach Polemik.
Der Rest ist geschenkt.
Gerne dürfen Sie die Verträge mit der EU (die bis 31. Oktober 2025 in Vernehmlassung sind) auch selbst lesen.
Der Text orientiert sich zum Teil am Faktencheck der »operation libero«.

