Den nachfolgenden Text entnehmen wir dem Wochenkommentar von Matthias Zehnder, das Titelbid verdanken wir Christoph Gloor, der am 1.11.1986 seinen 50sten Geburtstag feierte, mit einem Bild, das der Künstler anschliessend der Gemeinde Birsfelden schenkte.
Nach Schweizerhalle – vor der Atomausstiegsabstimmung
«Tschernobâle» titelte diese Woche die NZZ über einem Rückblick auf die Brandkatastrophe in Schweizerhalle vor 30 Jahren. Die Zeitung bringt damit den Chemieunfall unfreiwillig mit der Atomausstiegsfrage in Verbindung. Unfreiwillig, aber zu Recht. Ein Kommentar über den Aspekt der Verantwortung, 30 Jahre nach Schweizerhalle, drei Wochen vor der Abstimmung über die Atomausstiegsinitiative.
Es war der grösste Chemieunfall, den die Schweiz je gesehen hatte und bis heute sind die Folgen nicht ganz beseitigt. In der Nacht auf den 1. November 1986 geriet die Lagerhalle 956 der damaligen Chemiefirma Sandoz in Brand. Ursache war vermutlich ein Schwelbrand, der durch das Schrumpfen von Plastik über einem Stoff namens Berliner Blau verursacht worden war. Rasch gerieten die in der Halle gelagerten Chemikalien in Brand: 1351 Tonnen Pestizide, Herbizide und Insektizide.
Die verbrannten Chemikalien führten zu unerträglichem Gestank in der Region Basel. Die Abgase des Brandes waren, abgesehen von Reizungen der Atemwege, nicht akut gefährlich. Doch am Brandplatz gelangten grosse Mengen Löschwasser in den Rhein und schwemmten rund 30 Tonnen hochgiftiger Chemikalien in den Fluss. Das Löschwasser färbte den Rhein rot. Sandoz liess verlauten, das sei bloss ein Markierstoff und ungefährlich. Doch die Chemikalien im Löschwasser vergifteten den Rhein auf einer Länge von 250 Kilometern. Der Fluss war in der Folge über viele Kilometer und für mehr als ein Jahr tot. Die Bilder des roten Rheins blieben den Baslern im Gedächtnis.
An der Katastrophe vorbeigeschrammt
Was die Menschen damals nicht wussten: Es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre in Basel zu einer auch für Tausende von Menschen tödlichen Katastrophe gekommen. Unmittelbar neben der Halle 956 lagerte Sandoz nämlich grosse Mengen Phosgen, das sie für die Herstellung von Insektiziden verwendete. Phosgen ist extrem giftig: Das Gas wurde im ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn auch diese Halle in Brand geraten wäre.
Am Brandplatz blieben 8700 Kilogramm zum Teil hochgiftige Pestizide und 134 Kilogramm Quecksilber zurück. Die Schadstoffe stecken bis heute im Boden: Sandoz deckte den Boden mit einer grossen Betonplatte zu. Die Schadstoffe bedrohen deshalb heute noch die Trinkwasserfassung Obere Hard in Muttenz.
Sandoz wäre gewarnt gewesen
Der Chemiebrand von Schweizerhalle und der Nuklearunfall im Atomkraftwerk Tschernobyl, der sich im gleichen Jahr ereignete, haben 1986 dazu geführt, dass viele Menschen das grenzenlose Vertrauen in die Technik verloren haben. Das Vertrauen in die Technik und in die Manager, welche die Technik beaufsichtigen. Sandoz hatte zwar jede Schuld von sich gewiesen und den Eindruck erweckt, dass das Unglück überraschend und unvorhersehbar gewesen sei. Später kam jedoch aus, dass sich die Zürich Versicherung bereits 1981, also fünf Jahre vor dem Brand, geweigert hatte, die Halle 956 zu versichern, weil in der Halle Rauchmelder und Sprinkleranlagen fehlten. Im Gutachten schrieb die Versicherung, im Unglücksfall bestehe die Gefahr eines grossen Schadenausmasses durch Freisetzung von Chemikalien in Luft und Löschwasser und dadurch Gefährdung der Bevölkerung. Die Versicherung beschrieb also fünf Jahre vor dem Unfall etwa das, was 1986 dann eintrat. Was machte die Sandoz? Sie wechselte zu einer weniger kritischen Versicherung.
Die Versicherung hatte 1981 das Risiko eines Unfalls mit «mittlerer Eintretenswahrscheinlichkeit» beziffert. Dass ein solcher Unfall ausgerechnet in der technisch hochentwickelten Schweiz passieren konnte, erschütterte die Menschen auf ähnliche Weise, wie das Atomunglück in Fukushima im hochentwickelten Japan. Das «Unenkbare» war gesehen.
Wer trägt die Verantwortung?
Die Frage ist: Wer trägt dafür die Verantwortung? Wer trägt die Verantwortung, wenn sich zum Beispiel Grundwasserspiegel verschieben und Gift, das immer noch im Boden steckt, ins Basler Trinkwasser gelangt? Das ist nach 30 Jahren ganz schwierig. Die Sandoz gibt es nicht mehr. Rechtsnachfolgerin von Sandoz ist zwar die Novartis, die Agrochemie und damit das betroffene Areal ging aber an Clariant. Wer hat nun die Verantwortung?
Wenn sich schon nach 30 Jahren die Verhältnisse so kompliziert haben – wie soll denn jemand die Verantwortung für ein AKW oder ein Atommülllager übernehmen können, wo die Umweltbelastungen nach einem Unfall Tausende, ja Millionen Jahre dauern können? Wie soll jemand die Verantwortung für Atommüll übernehmen können, wenn die Schweiz bis heute nicht weiss, wo sie den nuklearen Abfall lagern soll?
Der neue Imperativ
Die Frage der Verantwortung stellt sich neu, seit die Menschen mit menschgemachten Mitteln die Welt vernichten oder sie auf Generationen hinaus zerstören könnten. Der deutsche Philosoph Hans Jonas hat den Anspruch so formuliert: Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, den Menschen zum Unheil zu werden. Anders gesagt: Weil die Technik Mass und Möglichkeiten des Menschlichen übersteigen, muss der Mensch die Technik zügeln.
Aber wie und nach welchen Prinzipien muss der Mensch die Technik, sein Handeln begrenzen? Hans Jonas formuliert dafür das Prinzip der Verantwortung, ein neuer Imperativ: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Oder negativ formuliert: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.
Es geht um die künftigen Generationen
Der Imperativ von Hans Jonas sagt, dass wir zwar unser eigenes Leben aufs Spiel setzen dürfen, aber nicht das Leben künftiger Generationen. Er schreibt wörtlich: dass wir nicht das Recht haben, das Nichtsein künftiger Generationen wegen des Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wagen. Hans Jonas hat diese Sätze 1979 geschrieben, sieben Jahre vor Schweizerhalle – und 37 Jahre vor der sich abzeichnenden Klimakatastrophe der Gegenwart.
Hans Jonas formuliert die Sätze seines Imperativs der Verantwortung nüchtern und zurückhaltend. Wir dürfen sie heute aber als schreiende Anklage gegen unseren Umgang mit Umweltrisiken lesen. Haben Sie die Diskussion um die Atomkraft in den letzten Wochen verfolgt? Sie lesen von einer möglichen Stromlücke, einem möglichen Blackout, Sie lesen vom Strompreis und der Stromversorgung – ob und wie unsere Nachfahren mit dem Atommüll umgehen, was sie mit den strahlenden Ruinen der AKWs anstellen sollen, davon steht kein Wort geschrieben. Ganz zu schweigen von einer Nuklearkatastrophe.
Risiko ist nicht gleich Wahrscheinlichkeit
Experten sagen, die «Eintretenswahrscheinlichkeit» eines Super-GAUs in der Schweiz sei sehr klein. Einmal ganz abgesehen davon, dass vergleichbare Experten das auch vor Schweizerhalle, vor Tschernobyl und vor Fukushima behaupteten, leiten Politiker daraus fälschlicherweise ab, dass das Risiko, das sie mit der Nutzung der Atomkraft eingehen, klein sei. Das ist falsch. Denn Risiko ist definiert als das Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmass. Die Wahrscheinlichkeit eines Atomunfalls mag klein sein – weil das potenzielle Schadensausmass riesig ist, schaut als Produkt der beiden Faktoren ein grosses Risiko heraus.
Ob wir dieses Risiko eingehen dürfen, lässt sich, so Hans Jonas, nicht nur am Nutzen messen, den wir aus der Atomkraft ziehen. Wir müssen auch künftige Generationen miteinbeziehen. Und wenn die Permanenz echten menschlichen Lebens in der Schweiz gefährdet ist, müssen wir von der Atomkraft absehen, und sei der Nutzen in der Gegenwart noch so gross. Denken Sie daran, wenn Sie in den nächsten Wochen vom Nutzen der Schweizer AKW hören, von Preisen und Profiten. Das sind die falschen Massstäbe. Auf die Lebensmöglichkeit unserer Kinder und Kindeskinder kommt es an.
Matthias Zehnder
Franz Büchler
Nov 7, 2016
Und dann kann man ja für den Dreck unter dem Betondeckel, der auf dem vergifteten Gelände ruht, auch die Grenzwerte erhöhen, damit eine Verschleierung der andauernden Vergiftung von Erde und Wasser mit dem Stempel »SANIERT« belohnt werden kann.
Wenn die Verscharrung des Atommülls mit ähnlichem Verantwortungsbewusstsein geschieht, ähnelt diese Übernahme der Verantwortung dem jeweiligen Standardsatz bei Anschlägen.