Ist Ihnen der Name Herbert Lüthy bekannt? Wenn nicht: Der 2002 verstorbene, an der ETH und der Uni Basel lehrende Geschichtsprofessor Lüthy gehört ohne Zweifel zu den herausragenden Historikern der Schweiz. 1961 veröffentlichte er ein wegweisendes und auch heute noch höchst lesenswertes Essay über das Wesen der Schweiz: „Die Schweiz als Antithese“.
Darin hielt er abschliessend luzide fest: „Die Weltgeschichte ist kein Strom, der von einer einzigen Strömung zu Tal gerissen wird: Keine Allegorie ist falscher und zutiefst unmenschlicher als diese. Wenn die Welt nach der grossen Einheit strebt, wie wir gern glauben wollen, so strebt sie nicht minder mit all ihren lebendigen Kräften nach der Freiheit und Selbstbestimmung all ihrer Gemeinschaften, auch der kleinsten – und diese beiden Ideale sind nicht notwendigerweise unvereinbar.
Die ganze Geschichte der Schweiz ist da, um zu zeigen, dass es am Ende langer Unordnungen und Gewalttätigkeiten möglich war, auf kleinem Raum die Einheit und die Vielheit, den Zusammenhalt des Ganzen und die Eigenständigkeit der konstituierenden Teile zu vereinen; im Blick auf diese gelungene Synthese hat 1913, am Vorabend der europäischen Katastrophen, der französische Historiker Elie Halévy 376 gesagt, Europa habe zu wählen zwischen der «universellen schweizerischen Republik» und dem kriegerischen Caesarismus. Wir sind der universellen Gültigkeit unseres schweizerischen Miniaturmodells nicht mehr so gewiss; doch war denn eigentlich die Voraussage Halévys im Grunde falsch – und haben wir aufgehört, an unsere eigenen Lehren zu glauben?
Es könnte wohl sein, dass das überlebende Europa über all die tastenden Versuche, Erfolge und Fehlschläge der «Integration» schliesslich dazu gelangt, auf anderem Wege und in anderem Massstab eine ähnliche Synthese zu erarbeiten: denn Europa wird nicht darum herumkommen, den Föderalismus zu entdecken oder neu zu erfinden, wenn es eine Einheit bilden will, ohne sein Wesen zu zerstören …. Gewiss lädt unsere Epoche nicht zu rosigen Zukunftsvisionen ein, und jeder Vorausblick ist nur unter dem Vorbehalt möglich: vorausgesetzt, dass die Menschheit überlebt … Doch wenn sie überlebt, dürfen wir glauben, dass sie nie aufhören wird, nach jener menschlich annehmbaren Lebensform zu suchen, die Freiheit und Ordnung vereint.“
Was hat nun Herbert Lüthy mit Roger Köppel zu tun?
Ganz einfach: Herbert Lüthys Essay lag am traditionellen Sommerfest der Weltwoche für alle Teilnehmenden auf, — sozusagen als Vorläufer der „Weltwoche als Antithese“, wie Köppel in seinem neuen Editorial festhält. Hier ein paar Auszüge:
„Die Weltwoche verstand sich von Beginn an als Befreiungsschlag gegen dieses in seiner Überhitztheit festgefrorene Klima der Diskussionsverweigerung.// Die Schweiz ist als älteste, tiefste und echteste Demokratie Europas sozusagen genetisch auf Meinungsvielfalt codiert. Die Weltwoche erhebt diese Prägung zum Programm.// Heute würde Lüthy gegen die mediale Gleichschaltung … als unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren einer direkten Demokratie eintreten.// Die Schweiz und mit ihr die Weltwoche stehen für Demokratie als Staatsform der Alternativen und der echten Meinungsvielfalt ein.“
Überzeugende Worte, oder nicht?
Nur:
- Warum verteidigt Roger Köppel dann das neue Plakat der SVP, indem sämtliche anderen Meinungen als zerstörerisch, ja als Landesverrat abqualifiziert werden? Was soll es da denn noch zu diskutieren geben, wenn die politischen Gegner nur eklige Maden sind?
— Warum unterstützt Roger Köppel explizit Politiker wie Donald Trump, Victor Orban oder Matteo Salvini, die nur einen Wunsch haben: der „Lügenpresse“- also jenen Medien, die nicht ihre Ideologie vertreten — so rasch als möglich das Maul zu stopfen?
— Warum diffamiert die Weltwoche international anerkannte Historiker wie Jakob Tanner oder Philipp Sarasin als „Marxisten“? (für die Weltwoche mindestens so schlimm wie Belzebub und Leviathan zusammengenommen ;-))
— Warum greift Roger Köppel immer wieder die EU als menschenverachtende und diktatorische Institution an und liebäugelt mit einer Ausrichtung nach China, Russland oder die USA à la Trump (alles bekanntlich lupenreine diskussionsbereite Demokraten … !)
Herbert Lüthy hielt in seinem Essay fest: Europa wird nicht darum herumkommen, den Föderalismus zu entdecken oder neu zu erfinden, wenn es eine Einheit bilden will, ohne sein Wesen zu zerstören.”
Wer sich dem „festgefrorenen Klima der Diskussionsverweigerung“ in Sachen Europa wirklich entziehen will, dem sei nicht die Weltwoche, sondern das Buch von Ulrike Guérot „Warum Europa eine Republik werden muss: Eine politische Utopie“ sehr empfohlen, weil es genau diese Forderung Lüthys aufgreift und diskutiert.
Es lohnt sich auch, in dieser Sache Peter von Matt auf Youtube zuzuhören.
Im Anhang finden alle Interessierten übrigens das Essay von Herbert Lüthi. Prädikat: höchst lesenswert — trotz Weltwoche ;-)!
Lüthy Die_Schweiz_als_Antithese
Bitterli-Riesen Irene
Okt 14, 2019
Vielen Dank für diesen Kommentar!
Irene Bitterli-Riesen
Mitherausgeberin der siebenbändigen
Lüthy-Werkausgabe bei NZZLibro.