… nun, der gute Rat kam ein paar Tage später von seiner Mutter und seiner jungen Frau. Vor die Wahl gestellt, den bitteren „Gang nach Canossa“ zu gehen oder weiterhin auf unbestimmte Zeit im Gefängnis von seiner Familie getrennt zu schmachten, rang er sich — wahrscheinlich zähneknirschend — zur geforderten Abbitte durch.
Wenig später erhielt er das offizielle luzernische Arztpatent und konnte so seine Arztpraxis zum zweiten Mal eröffnen. Der Erfolg blieb nicht aus: Die bernische Ärztegesellschaft ernannte ihn zusammen mit international angesehenen medizinischen Koryphäen zum Ehren- und korrespondierenden Mitglied, und er erhielt sogar das Angebot einer Professur an der neugegründeten Universität Berlin. Troxler lehnte ab, wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine alternde Mutter, — im Hinblick auf seine spätere entscheidende Rolle 1848 ein glücklicher Entscheid für die Schweiz!
Und wieder hätte sich sein Leben in geordneten bürgerlichen Bahnen entwickeln können, wenn im Oktober 1813 nicht ein Ereignis eingetreten wäre, das Europa erneut in seinen Grundfesten erschütterte: Napoleon wurde in der Völkerschlacht bei Leipzig durch eine Koalition von Russland, Preussen, Österreich und Schweden besiegt. Das bedeutete das Ende von dessen Kaiserreich und der damit verbundenen politischen Ordnung in Europa, — auch in der Schweiz.
Erinnern wir uns: Nach massiven Unruhen im Einheitsstaat der Helvetischen Republik hatte Napoleon erkannt, dass er den geschichtlichen und politischen Eigenheiten dieses renitenten und zerstrittenen Völkleins Rechnung tragen musste. 1803 diktierte er einer Delegation in Paris die Mediationsakte, welche dann tatsächlich zu einer Beruhigung führte.
Mit dem Sturz Napoleons wurde auch die Mediationsakte hinfällig. Am 29. Dezember 1813 setzte die Tagsatzung sie formell ausser Kraft. Allerdings sollten die in der Mediationszeit entstandenen neuen Kantone St. Gallen, Aargau, Thurgau, Tessin und Waadtland weiterbestehen dürfen.
In den nächsten Monaten kam es nun zu einem erbitterten Streit zwischen jenen Kantonen, die mit Rückendeckung der siegreichen konservativen Alliierten zurück zur alten Ordnung kehren wollten, und jenen, die wichtige Errungenschaften aus der Zeit der Helvetik und der Mediation beizubehalten suchten.
Zur ersten Gruppe gehörten die „aristokratischen“ Kantone Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern, wo es umgehend zu restaurativen Staatsstreichen kam. Bern verlangte gar die Wiederherstellung der Untertanengebiete, was allerdings sogar den Diplomaten der konservativen (!) Alliierten zu weit ging und von ihnen umgehend zurückgewiesen wurde.
Und unter deren Aufsicht begann nun der langwierige und chaotische Prozess, der Eidgenossenschaft eine neue solide politische Grundlage zu geben. Auf Verlangen der alliierten Gesandten bestimmte die Tagsatzung im April 1814 eine Kommission, welche den Kantonen schon im Mai den Entwurf eines neuen Bundesvertrags vorlegte.

«Wallfahrt auf die Tagsatzung nach Zürich». Karikatur auf die erzwungene Teilnahme Berns an der Tagsatzung in Zürich. Der Berner Bär wird in Ketten und mit Maulkorb von einem Zürcher an der Kette geführt. Zwei Affen, die an ihren Fahnen als die verlorenen Untertanen Berns in der Waadt und im Aargau zu erkennen sind, reiten auf seinem Rücken. Getrieben wird der Bär von einem Kosaken, der für den russischen Druck auf Bern steht (aus Wikipedia)
Damit begann das Chaos: 9 1/2 Kantone nahmen den Entwurf zwar an, 9 1/2 jedoch lehnten ihn ab oder traten gar nicht auf ihn ein. Bern, Schwyz und Glarus stellten Gebietsansprüche zu Lasten der neuen Kantone. Bern z.B. verlangte den Aargau, der Fürstabt von St. Gallen wollte seine sanktgallische Fürstabtei zurück. Die Urkantone dachten laut über den Austritt aus der Tagsatzung und der Erneuerung des Dreiländerbunds von 1315 nach! Die Einsetzung eines Schiedsgerichts scheiterte. Im August drohten die Abgeordneten der „alten Schweiz“ sogar, sich zu einem dreizehnörtigen Sonderbund zusammenzuschliessen.
Kurz, die Sackgasse war perfekt. Man begann auf beiden Seiten, militärische Massnahmen ins Auge zu fassen. Drohte ein Bürgerkrieg?
In dieser ausweglosen Situation griffen nun die alliierten Minister Russlands, Österreichs und Englands ein und stellten die Streithähne vor ein Ultimatum: Falls es nicht innert nützlicher Frist zu einer einvernehmlichen Lösung komme, würden die Alliierten zu einer Zwangsvermittlung „à la Napoleon“ schreiten.
Das wirkte Wunder, — vielleicht auch wegen der Gerüchte, die Schweiz könnte sonst dem Deutschen Reich zugeschlagen werden und seine politische Selbständigkeit verlieren: Innert drei Tagen einigte man sich auf einen neuen Verfassungsentwurf, dem sich im September eine klare Mehrheit der Kantone anschloss. Alle strittigen Gebietsansprüche zwischen den Kantonen sollten dem in Wien geplanten internationalen Kongress vorgelegt werden.
Nach diesem längeren, aber notwendigen politischen Exkurs haben wir Ignaz Troxler etwas aus den Augen verloren. Der erlebte seinerseits in diesem turbulenten Jahr turbulente Zeiten: Im Mai 1814 sass er nämlich schon wieder im Luzerner Gefängnis. Anklage: aufrührerisches Verhalten! Höchststrafe: Hinrichtung! — siehe nächste Folge.
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