Wer sich als interessierter Laie mit der Beziehung der Schweiz — resp. der Alten Eidgenossenschaft — zu Europa auseinandersetzen möchte, das seinerseits über die Jahrhunderte hinweg tiefgreifende Wandlungsprozesse durchmachte, begibt sich auf historisches Glatteis.
Das Bild der Schweizer Geschichte hat seit den Tagen Johannes von Müllers einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Was aktuelle Schweizer Historiker uns heute präsentieren, ist ein Geschichtsbild, das durch einen massiven Prozess der Entmythologisierung gegangen ist. Ade Wilhelm Tell und Arnold Winkelried, ade böse Habsburger, die nur ein Ziel kannten, die freiheitsliebenden Eidgenossen zu unterdrücken und zu knechten. Ade Rütlischwur und Burgenbruch als Geburtsstunde eines in der Weltgeschichte einzig dastehenden Staatsgebildes.
Sie haben sich den Ausspruch von Herbert Lüthy auf die Fahnen geschrieben:
Es ist gefährlich, wenn Geschichtsbewusstsein und Geschichtswahrheit, und damit auch Staatsbewusstsein und Staatswirklichkeit, so weit auseinanderrücken, dass wir von uns selbst nur noch in Mythen sprechen können. Wir haben uns eine Denkschablone des Eidgenössischen geschaffen, die weniger dazu dient, unsere Gegenwart zu gestalten, als uns vor ihr in Illusionen über uns selbst zu flüchten.
Das Zitat stammt aus dem Buch von André Holenstein, “Die Schweiz mitten in Europa”, und dessen Verfasser vermerkt in der Einleitung kritisch:
Gewöhnlich ist das Verständnis der Schweizer Geschichte in einer nationalen Perspektive gefangen. In einem eigentlichen Tunnelblick sucht dieses Verständnis in der Vergangenheit nach dem langen Weg von der alten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat von 1848, der mit seinen drei staatspolitischen Grundpfeilern des Föderalismus, der Souveränität und der Neutralität als Vollendung eidgenössischer Staatsbildung vorgestellt wird. Historische Tatsachen, die sich nicht in dieses Bild der föderalistischen, souveränen und neutralen Schweiz fügen, gehen nicht in die nationale Erinnerungstradition ein.
Holenstein wagt in seinem Buch den Versuch, die Geschichte der Schweiz konsequent unter dem Gesichtspunkt ihrer Verflechtung und Abgrenzung zu schreiben und diese gegensätzlichen Einstellungen in ihrem jeweiligen Wechselspiel zu betrachten, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dazu müssen die Sackgassen und toten Winkel eines nationalen Geschichtsverständnisses gemieden werden, das die Schweiz als ein Land versteht, das sich selbst genügt und seit je tapfer den Zumutungen der bedrohlichen Aussenwelt trotzt.
Als Thomas Maissen mit seinen “Schweizer Heldengeschichten — und was dahinter steckt” 2015 an die Öffentlichkeit trat, zog er sich den geballten Zorn der SVP zu, weil er fast zu jedem Kapitel ein Blocher-Zitat voranstellte, das er anschliessend genüsslich zerpflückte.
Tatsächlich stehen seine Ausführungen in diametralem Gegensatz zur Schweizer Geschichte, wie sie die Schweizerische Volkspartei unermüdlich neu zelebriert: Die Schweiz als einzigartiger und positiver Sonderfall in der Geschichte Europas.
Wir haben uns heute hier als freie Schweizer versammelt. 724 Jahre nach dem Bundesbrief. Wir leben in einem Land, das einzigartig ist. Weil wir ein politisches System haben, das einzigartig ist. Mit dem Bürger als Souverän. Mit den Volksrechten. Mit der direkten Demokratie. Damit klärt sich auch die Bedeutung des Bundesbriefes. Nämlich rückwirkend. Das Ergebnis zählt. Und wir dürfen durchaus zufrieden sein: Die Schweiz hat mehr Demokratie und Wohlstand geschaffen als die meisten anderen Länder.
Im 14. und 15. Jahrhundert entwickelt sich die Eidgenossenschaft aus sich selbst heraus. Es entstehen Landsgemeinden, die sich ihren Landammann selber wählen und ihre Geschicke selber bestimmen. Urformen der Demokratie, Fingerübungen der Volksherrschaft. Während in ganz Europa der Adel seine Stellung festigt und sich die Monarchien ausgestalten, verschwinden in der Schweiz die aristokratischen Strukturen weitgehend.
Der Bundesbrief ist Teil dieser Kettenreaktion, aus der schliesslich die Schweiz entsteht. Unser Land hat keine exakte Geburtsstunde. Die Schweiz ist gewachsen. Von unten nach oben. Dieser Geist hat uns auch vor grösseren historischen Fehltritten bewahrt. Im Gegensatz zu unseren Nachbarn war die Schweiz nie eine Monarchie mit Königen, die sich wie Götter au!ührten. Und nie eine Diktatur. Darum brauchen wir auch keine „europäische Vision“.
(aus: Die Bedeutung des Brundesbriefes von Peter Keller, Nationalrat, Hergiswil, 22.8.2015.
Gibt es zwischen diesen beiden Positionen überhaupt die Möglichkeit eines Brückenbaus?
Ulrich Im Hof versuchte in seinem Buch “Mythos Schweiz. Identität — Nation — Geschichte 1291 — 1991” genau das. Es will mit wissenschaftlich-historischer Methode Antwort auf die heute brennenden Fragen des Selbstverständnisses bzw. der Identität des Schweizers geben und deren Wurzeln freilegen (Klappentext).
Und der Historiker Urs Altermatt:
Was wir nach den Jahrzehnten der Einigelung brauchen, ist eine neue Lektüre unserer Geschichte, eine – und ich gebrauche bewusst dieses altmodische Wort – patriotische Erzählung, die für alle, die in der Schweiz wohnen, für Alteingesessene und für Zugewanderte, die ‹Idee Schweiz› neu reflektiert und uns diese jenseits von Denkmalpflege und von parteipolitischen Streitereien verständlich macht, eine Geschichtserzählung, die uns nicht von Europa absondert, sondern uns in diesem neuen Europa die Identität eines Mitakteurs gibt, denn es ist auf die Dauer keine Lösung, sich einfach vom europäischen Strom im automatischen Nachvollzug mitreissen zu lassen. Das Schlimmste wäre ein selbstauferlegtes Denkverbot in Bezug auf die Mission der Schweiz in Europa. Über die Schweiz nachdenken, heisst auch Europa mitgestalten.
Es gibt allerdings noch einen dritten fast vergessenen Strang, die Geschichte der Schweiz in Europa zu interpretieren, der allerdings weder von den Fachhistorikern noch den SVP-Granden ernst genommen werden dürfte. Als Beispiel dafür sei das dreibändige Werk “Vom Mythus zur Idee der Schweiz” des 1945 verstorbenen Conrad Englert-Faye angeführt.
Die Herausgeber schreiben in der kurzen Einleitung:
Sich lösend aus den Rassen‑, Volks- und Sippenbindungen, trat in der schweizerischen Eidgenossenschaft die menschliche Individualität den alten Kollektiverscheinungen entgegen, um aus den eigenen Kräften ein Verhältnis zu Gott, zu den Menschen und den irdischen Verhältnissen zu gewinnen. Die Freiheit der Schweizer, so angesehen, ist primär ein Ereignis, zu dem der Mensch deshalb strebt, weil er dem Geiste der Welt verbunden und verpflichtet ist und von nirgends her als aus den erwachenden Ich-Kräften die Verbundenheit mit ihm erhalten und die Verpflichtung an ihn erfüllen kann. Die Freiheit der Schweizer … war eine menschlich-geistige; die politische Freiheit eine Folge davon. Dies ist der grandiose Aspekt, den Conrad Englert-Faye aufzeigt und der dem schweizerischen Staatsgebilde menschheitlichen Sinn gibt.
Die geneigte Leserin und der geneigte Leser spüren wahrscheinlich, dass hier ein Ton angeschlagen wird, der weder bei den Fachhistorikern noch bei der SVP zu finden ist. Der Grund: Englert-Faye war Anthroposoph. Die anthroposophische Bewegung ist zwar in der Regio Basiliensis dank dem Goetheanum und den Rudolf Steiner-Schulen fest etabliert, aber sie steht auch regelmässig immer wieder im weltanschaulichen Gegenwind. Nur weltanschauliche Scheuklappen würden verlangen, diese Sicht aus der Diskussion für ein sinnvolles Bild der Beziehung “Schweiz-Europa” auszuschliessen.
Und damit Vorhang auf für eine hoffentlich anregende Auseinandersetzung zum Thema, gefolgt von hoffentlich genauso anregenden Diskussionen 🙂
Franz Büchler
Jul 8, 2021
Das Zitat von Pontus Wasling, einem schwedischen Hirnforscher, gilt nach meiner Meinung nicht nur für die persönlichen Lebensgeschichten, sondern sinngemäss für alle »Landesgeschichten«:
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»Wenn wir in die Zukunft blicken, tun wir das durch den Rückspiegel, und es ist ein Spiegel mit einem verzerrten Bild, durch den wir die Welt erblicken. Gewisse Dinge werden vergrössert, andere verschwinden, Details werden verzerrt und fehlgedeutet. Die Lebensgeschichte wird redigiert, um in die jetzige Situation zu passen. Wir können immer Lichtblicke finden und Ereignisse umdeuten und auf diese Weise unser eigenes Glück erschaffen.«
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Einen kurzen Artikel von Pontus Wasling finden Sie im Jahresbericht der Kantonalen Denkmalpflege Basel-Stadt, hier erhältlich:
https://www.bs.ch/publikationen/denkmalpflege/jahresbericht_dpf_2018_web.html