Dis­put auf dem Wei­h­nachts­baum­markt

Ein zweitlet­zter, ach so vornehmer Wei­h­nachts­baum spricht zum let­zten, fast nadel­losen Wei­h­nachts­baum: «Pfffff, hal­lo, alter Knabe. Du meine Güte, wie siehst du denn aus? Hat ein Tsuna­mi dich in die Man­gel genom­men?»
«Oh, auch hal­lo, mein Herr. Ich habe keine Ahnung, es ist eben passiert.»
«Naja, natür­lich. Es ist eben passiert! Immer die gle­ichen faulen Ausre­den. Ein altes Sprich­wort bringt es auf den Punkt: Was Hän­schen nicht lernt, lernt Hans nim­mer­mehr!»
«Entschuldigen Sie, mein Herr, da kann ich wirk­lich nichts dafür! Wo ich herkomme, gibt es lei­der nur Baum­schulen für die Reichen.»
«Pap­per­la­papp. Wo ein Wille ist, da find­et sich auch ein Weg. Sieh mich doch mal an. Aufrecht, voller kräftiger Äste, gespickt von grü­nen, ger­adeaus­gerichteten Nadeln! Mich kann man hin­stellen, wo man will, ich werde über­all her­aus­ra­gen und bestaunt wer­den!»
«Da wider­spreche ich Ihnen nicht, mein Herr. Ich frage mich bloss, warum man Sie nicht längst schon erwor­ben und an einem wärmeren Ort aufgestellt hat.»
«Jaaaa, mein Lieber, mich erwirbt man eben nicht ein­fach so mir nichts, dir nichts.»
«Ich ver­ste­he, dann liegt es vielle­icht am Verkauf­spreis?»
«Nein, in meinen Kreisen fragt man nicht nach dem Preis.»
Dafür umso mehr in mein­er Preisklasse, wollte er erwidern, doch er schwieg und schluck­te die Antwort hin­unter.
«Jet­zt sieh mal ein­er an, es hat dir doch noch die Sprache ver­schla­gen. Nicht wahr, alter Knabe?», sagte der Beau genüsslich und mit einem hämis­chen Grin­sen.
«Nein! Passen Sie auf, mein Herr — da kommt näm­lich wer.»
«Sehr schön, wusste ich es doch, da will mich ein­er abholen, und du guckst in die Röhre. Ich habe es dir ja…» Weit­er kam er nicht mehr, der Beau, denn jet­zt betrat­en der Wei­h­nachts­baumhändler und seine Frau die Szene. Der Händler sagte: «Der grüne dort, der sieht doch aus wie aus einem 3d-Druck­er gemacht. Wirf ihn auf den Abfall­haufen. Aber den dür­ren, den nimmst du mit nach Hause. Stell ihn im Wohnz­im­mer aufs Podest, schmücke ihn mit den schön­sten Kugeln und ein­er weis­sen Lichter­kette. Der soll jet­zt auch ein schönes Wei­h­nachts­fest erleben.»
Nun lag der Beau jam­mernd auf dem Abfall­haufen und wartete darauf, im Zol­li zu den Wild­schweinen gewor­fen zu wer­den.

Ivan Nicol­itsch

Mattiello am Mittwoch 24/49
Tür.li 5 (2024) von Georg Schumacher

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