Zu Zeiten wie dieser werden wohl neben mir auch andere inspiriert, sich im Bücherregal nochmal umzusehen. Die Zeit für Ü70-jährige steht ja zur Verfügung. Kein monatlicher Kegelabend, kein wöchentlicher Jassabend, Fitnessstudio geschlossen, kein Männerkochkurs alle zwei Wochen, dafür der tägliche Gang zum Briefkasten, das tägliche Messen des Blutdrucks.
Unvermeidbar steigt der TV-Konsum. Eine Leiche jagt die andere, Horden von Fahndern jagen Horden von Mördern, bitte alles anschnallen, Polizeihunde an die Leine nehmen, das Rauchen einstellen.
„Drah di nid um, der Kommissar geht um“. Tatüüü, Tatüüü, Tatüüü!
TV-Konsumenten, die sich vom Traumschiff, der Bergrettung, von Tatorten und dümmlichen Quizsendungen trennen können, dafür mal so exotische Programme wie arte, ntv, oder phoenix einschalten, sie werden auf interessante und aktuelle Dokus stossen, auf Leichen in Kühllastern, auf Särge in Eisstadien, auf Massengräber in städtischen Parkanlagen, auf Selbstmörder an Grenzzäunen. Das schafft kein Tatort in 90 Minuten, Filmemacher, Ermittler, Pathologen und Forensiker werfen ihre Handtücher. Die Stunde der Virologen, Epidemiologen und aber auch die der Dummschwätzer, Besserwisser, Kommentatoren und Verschwörungstheoretiker ist gekommen. Allerdings wird bei denen eher getwittert. Vom amerikanischen Präsidenten wird erzählt, er sei immun gegen alles, er sei als Kind in Javelwasser gebadet worden.
Nachdem ich mit dem Autor Marquez zu Beginn dieser Serie einen Fehlgriff getan habe, der Titel seines Romans war zu aktuell, gebe ich heute ein anderes Buch nicht mehr aus meiner Regalhaltung.
Und darum geht’s:
Charles Lindbergh, der bekannte und weltweit populäre Atlantiküberflieger, Faschist, Antisemit und Bigamist, kandidiert 1940 gegen Franklin D. Roosevelt um die US-Präsidentschaft, Er gewinnt, wird von Hitler mit einem Orden geehrt und schliesst einen Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland.
Mehr nicht zu diesem Roman. Erschreckend, was dort zu lesen ist, wenn wir das vergleichen mit dem, was derzeit in den USA geschieht: Waffenhamsterkäufe, Demos von „Republikanern“ zum Stopp der Antivirusmassnahmen und ein Präsident, der das alles unterstützt. Alt-Right, great!
Ein rückblickend historischer Roman wird plötzlich zu einer futuristischen Fiktion, die sich in Realität verwandelt. Philip Roth ist nicht der erste, der schreibt, „was wäre gewesen, wenn“, und plötzlich ist es so.
In der Schweiz erschien 1984 der Roman „Hitler auf dem Rütli“ von Doris Morf und Charles Levinski. Ungefähr zu der Zeit, als ein Christoph Blocher die SVP mit Geld düngte und die CH-Parteienlandschaft durchpflügte. So ein Zufall. Auch dies ein lesenswertes Buch, “was wäre gewesen, wenn”.
Derzeit sendet zdf neo die Serie DEUTSCHER. Darum gehts: Die AfD wird stärkste Partei und stellt die Regierung. Wie geht das weiter? Zugegeben, der Serientitel ist für Schweizer nicht unbedingt ein “must see” , aber für Personen, die differenziert denken und abstrahieren können, auch hierzulande erschreckend nachvollziehbar.“Was wird sein, wenn”.
Schriftsteller haben häufig ein Gefühl, für das Undenkbare, selbst bei einer Inkubationszeit von 15 Jahren. Philip Roth ist, so hört man, mehrfach knapp am Nobelpreis vorbeigeschrammt. Er ist im Mai 2018 verstorben.
PS.: Das Buch „Verschwörung gegen Amerika“ erschien 2004 (auf Deutsch 2005).
Und die Weisheit zum Beitrag:
Siegfried im Drachenblut.
Obelix im Zaubertrank.
Donald Trump im Javelwasser.
Anton Roth
Hier finden Interessierte alle in dieser Rubrik bereits erschienenen Beiträge.
max feurer
Mai 1, 2020
“Verschwörung gegen Amerika” war ein eindrückliches Leseerlebnis für mich, — genauso wie “Vaterland” von Robert Harris, der die Entwicklung Europas nach einem Sieg Hitlers schildert.
Roth’s letzter Roman “Nemesis” dreht sich übrigens um die Folgen einer Pandemie: “Die Haupthandlung des Romans fußt auf einer fiktionalen Polioepidemie im Jahr 1944 in Newark, dem Geburtsort des Autors im US-Bundesstaat New Jersey, und schildert die Reaktionen der Menschen darauf.” (Wikipedia)
Christoph Meury
Mai 2, 2020
Bevor alle vor Gescheitheit platzen, täte es gut gelegentlich mal wieder an die frische Luft zu gehen. Man könnte der Promenadologie, oder Spaziergangwissenschaft frönen, oder mit Urs Buess die Baselbieter Kantonsgrenze erwandern.
.
Die Promenadologie (auch Spaziergangswissenschaft und englisch Strollology) ist eine von Lucius Burckhardt entwickelte kulturwissenschaftliche und ästhetische Methode, die darauf zielt, die Bedingungen der Wahrnehmung der Umwelt bewusst zu machen und die Umweltwahrnehmung zu erweitern. Sie basiert sowohl auf einer kulturgeschichtlichen Analyse von Formen der Umweltwahrnehmung als auch auf experimentellen Praktiken zur Umweltwahrnehmung wie reflexive Spaziergänge und ästhetische Interventionen. Soll zudem auch gesund sein und die coronabedingte Schwermütigkeit vertreiben.
.
In Bezug auf Planung kombinierte Burckhardt diese Forschung mit praktischen Anteilen z. B. Erkundungen in der Stadt oder auf dem Land (Ethnologen sprechen davon, dass man sich ins Feld begibt). Diese Erkundungen bildeten reflexive Spaziergänge, mittels derer versucht wurde, am Beispiel von typischen und alltäglichen Situationen planerische Fragestellungen zu klären. Dazu waren die reflexiven Spaziergänge mit den Fragen verbunden, was man sieht und warum man das sieht bzw. wie man sich verhält und warum man sich so verhält. Denn die Wahrnehmung der Umwelt stellt sich unter geschichtlicher Perspektive als wandelbar und historisch geworden dar. Daher ging es Burckhardt in der Ausbildung von Planern darum, ihnen bewusst zu machen, dass gegenwärtige Selbstverständlichkeiten nicht immer so selbstverständlich waren und dass die aktuelle Umweltwahrnehmung historischen Bedingungen unterliegt.
.
Neben kulturwissenschaftlichen und planungspolitischen Kenntnissen setzte Burckhardt auch ästhetische Mittel und Aktionen ein. Beispielsweise wurde auf einem Spaziergang ein Parkplatz als Seminarraum genutzt, um die Reaktionen der Autofahrer und Passanten auf diese Freiraumnutzung im Feldversuch zu ermitteln. Ihm ging es mit den Versuchen darum, zukünftigen Planern persönliche Erfahrungen abzuverlangen, die planerisch relevant sind wie z. B. das langsame Überqueren einer vielbefahrenen Straße. Ästhetische Interventionen in Alltagssituationen waren daher nicht allein im künstlerischen Sinne zu verstehen, sondern zielten auch darauf, den Teilnehmern bestimmte Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten bewusst zu machen und die bekannten Situationen auf andere Weisen wahrnehmbar zu machen, weil viele Planungsprobleme letztlich ästhetische Probleme sind, die aus eingefahrenen Wahrnehmungsmustern resultieren.
.
Urs Buess hat in seiner etappierten Wanderung die Baselbieter Kantonsgrenze erwandert. In 15 Etappen ist ihm dies innerhalb eines Jahres geglückt. Auf seinem Blog berichtet er von den Erlebnissen http://ursbuess.ch Die Lektüre ist empfehlenswert! Weit weg vom Tanz um ein Höhenfeuer, aber nahe an der Natur und dem Alltag.
Wilhelm Tell
Mai 2, 2020
Oh, schön, wieder mal ein Buch gelesen.
Nun platzen Sie aber nicht gleich selbst …
Anton Roth
Mai 2, 2020
Lange Zeit habe ich mich geärgert über die hiesigen Tageszeitungen, auch über das offizielle Mitteilungsblatt der Gemeinde Birsfelden.
Für Leserbriefe und Kommentare werden dort Regeln aufgestellt:
Der Text müsse einen Bezug zu einem erschienenen Artikel haben, die Zahl der Anschläge wird vorgeschrieben (Vermutlich, damit die eingesandte Lesermeinung nicht mehr Umfang hat, als der kommentierte Bericht.), Beleidigungen und rassistisch oder sexistische Bemerkungen werden nicht veröffentlich, die Redaktion behalte sich Kürzungen vor. So, oder so ähnlich.
Toll, dass diese Vorgaben beim „birsfälder.li“ nicht bestehen. Manchmal allerdings, wäre es doch sehr Leser*innen freundlich. Zumindest Kürzungen von Wiederholungen aus dem ursprünglichen Beitrag vorzunehmen.
Übrigens, die “Flaneursophie” des Basler Architekten und Städteplaners Lucius Bucrckhardt würde vielen Birsfeldern gut tun.