“Kleines, schmales Gesicht, fast verdeckt von Haar und Brille. Feingeformte Nase, schwarze, kühn blickende Augen, ein nach vorn gestreckter Hals vermittelten den Eindruck einer leidenschaftlichen, fast aufdringlichen Neugier, aber der Mund mit den vollen Lippen drückte Sanftmut und Güte aus. … es war ein zugleich anmassendes und sanftes Antlitz, kühnes Befragen, aber schüchternes Lächeln, das sich über die eigene Person zu belustigen schien. Waren es nun die dicken Brillengläser oder der Eindruck, stets untersuchen, wissen, urteilen zu wollen? … Ein schmächtiger Körper, lebhafte, aber häufig ungeschickte Gesten … Dies alles bildete eine eigenartige Gestalt, die an die revolutionäre Intelligenzija erinnerte und manchen Leute, aus irgendeinem Grund, bis zur Weissglut reizte — noch heute.” (Simone Pétrement, Klassenkameradin von Weil am berühmten Lycée Henri IV in Paris)
“Schon als reizvolles junges Mädchen kleidete sie sich bewusst unelegant in dem Bestreben, ihre Schönheit zu verbergen. Ihre studentische Standardkleidung bestand aus flachen Schuhen, Wollstrümpfen, einem Kostüm, einer Baskenmütze, einem groben Mantel mit weiten Taschen voller Zeitungen, deutlich herausragend die kommunistische L’Humanité. Zigaretten rauchend, wollte sie es den Männern gleich tun: Ausdruck emanzipatorischer Bestrebung, denn es gab nur wenige Studentinnen, in der Philosophieklasse ihres Lehrers Alain ganze vier.” (Heinz Abosch)
Simone Weil — offensichtlich schon in jungen Jahren eine auffallende Erscheinung.
1909 in Paris eine grossbürgerliche jüdische Familie geboren, — der Vater war Internist, ihre nach Pogromen aus Russland geflohene Mutter Pianistin — , erwies sich Simone schon bald als hochbegabtes, aber auch stetig kränkelndes, schwieriges und eigensinniges Kind. Sie konnte mit vier schon lesen und erlangte mit 16 ihr “baccalauréat”. Am Lycée Henri IV war sie die Lieblingsschülerin von Emile Chartier (“Alain”), der ein hohes Ansehen als “moralische Stimme” Frankreichs genoss, und studierte schliesslich an der Elitehochschule “Ecole normale supérieure” Philosophie.
Eine Anekdote der Mitstudentin Simone de Beauvoir macht deutlich, dass die frischgebackene Philosophin durchaus nicht beabsichtigte, sich in den sprichwörtlichen “philosophischen Elfenbeinturm” zurückzuziehen. Anlässlich einer Diskussion erklärte sie “in schneidendem Tone, dass eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde”. Als Beauvoir entgegnete, “das Problem bestehe nicht darin, Menschen glücklich zu machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden”, konterte Weil schroff: “Man sieht, dass sie noch niemals Hunger gelitten haben”.
Dass dies nicht nur schöne Worte waren, zeigte sich, als sie 1931 eine Stelle als Philosophielehrerin an einem Mädchengymnasium in Le Puy antrat, die Hälfte ihres Gehalts mit den Arbeitslosen in der Stadt teilte und an Demonstrationen für mehr soziale Gerechtigkeit teilnahm. Polizeiverhöre und anonyme Drohbriefe waren die Folge, und von der Presse erhielt sie prompt das Etikett “la vierge rouge”.
Weil durchschaute aber die wahre Natur des Sowjetkommunismus sehr wohl. Dort sei kein Arbeiterstaat entstanden, sondern eine bürokratische Herrschaft, “die dank der Konzentration aller ökonomischen und politischen Mittel in ihren Händen eine bisher noch nicht bekannte Macht besitzt.” Im Dezember 1933 vermittelte sie dem in Ungnade gefallenen und geflohenen Mit-Revolutionär Lenins Leo Trotzki trotzdem eine Unterkunft im elterlichen Haus in Paris. Während einer hitzigen Diskussion sprach sie Trotzki auf die von ihm befohlene Unterdrückung der Revolution der Matrosen von Kronstadt an, die sie vehement verurteilte: “Die Unterdrückung der Arbeiter ist selbstverständlich keine Etappe zu Sozialismus”. Darauf Trotzki: “Wenn Sie so denken, warum nehmen Sie uns dann auf? Sind Sie denn von der Heilsarmee?” — Zwei Denkwelten, die hier aufeinander trafen …
Um die Lebensrealität der Arbeiter noch besser kennenzulernen, beantragte Weil 1934 ein unterrichtsfreies Jahr und arbeitete ab Dezember als ungelernte Arbeiterin in diversen Fabriken. Sie fand absurd, dass Intellektuelle über die Lage der Arbeiter theoretisierten, ohne sie praktisch zu kennen; dass sie die Arbeiter führen wollten, ohne zu wissen, wer diese waren: “Doch wenn ich daran denke, dass die grossen bolschewistischen Führer eine freie Arbeiterklasse zu schaffen behaupteten und dass wahrscheinlich keiner von ihnen … je einen Fuss in eine Fabrik setzte und folglich nicht die leiseste Ahnung von den wirklichen Bedingungen hatte, die Knechtschaft oder Freiheit der Arbeiter bestimmen, dann erscheint mir die Politik als ein übler Witz”.
Also stanzte sie bei Alsthom an einer schweren Presse Bleche im Akkord, betätigte sich bei Renault als Fräserin und arbeitete am Ofen. Aus ihrem Tagebuch: “Sehr mühsame Arbeit. Unerträgliche Hitze, die Flammen züngeln bis an die Hände und Arme … Am ersten Abend, gegen 5 Uhr, verliere ich durch den Schmerz der Brandwunden, durch Erschöpfung und Kopfschmerzen, vollständig die Herrschaft über meine Bewegungen.”
Die Fabrikerfahrung heilte sie von einer weiteren Illusion. Sie hatte gehofft, unter den Arbeitern Solidarität und Brüderlichkeit zu entdecken. Stattdessen traf sie vor allem auf Abstumpfung und Resignation: “Meist spiegeln selbst Beziehungen zwischen Arbeitskollegen die Härte wieder, die dort drinnen alles beherrscht”. Doch es gab auch kleine Lichtblicke: “Wenn man Gelegenheit hat, mit einem Arbeiter einen Blick auszutauschen — im Vorbeigehen, wenn man ihn um etwas bittet oder ihm bei der Arbeit zusieht -, ist seine erste Reaktion stehts, zu lächeln … Das verhält sich so nur in einer Fabrik.”
Ein weiteres Fazit: “Die Revolution ist unmöglich, weil die revolutionären Führer unfähig sind. Aber sie ist auch nicht wünschenswert, weil sie Verräter sind. Zu dumm, um den Sieg zu erlangen, und wenn sie ihn hätten, würden sie ihn unterdrücken, genauso wie in Russland.”
— und: “Menschliche Beziehungen sind für mich nur auf der Grundlage der Gleichheit denkbar; sobald mich jemand als Untergebene behandelt, sind in meinen Augen zwischen ihm und mir menschliche Beziehungen ausgeschlossen; ich behandle ihn nunmehr als Vorgesetzen, das heisst, ich erdulde seine Macht, genauso wie ich Kälte und Regen erdulden würde …
Natürliche Ungleichheiten sind vorhanden. Meiner Meinung nach ist eine gesellschaftliche Organisation — vom moralischen Standpunkt aus betrachtet — nur insofern gut, als sie ihre Ungleichheiten abzuschwächen trachtet …, und sie ist insofern schlecht, als sie die Ungleichheiten verschärft, und sie ist schliesslich schädlich, wenn sie unüberwindliche Schranken aufrichtet.”
Die Parallelen zu anarchistischem Denken sind unübersehbar. Es ist deshalb keine allzugrosse Überraschung, wenn wir sie im Juni 1936 zu Beginn des spanischen Bürgerkrieg in der Miliz des berühmten anarchistischen Revolutionärs Durruti wiederfinden … Doch darüber mehr
am kommenden Samstag, den 26. September!