Und hier eine Buch­ge­schich­te, nicht die Geschich­te, die im Buch erzählt wird, nicht die Geschich­te des Buches, nein eine mini­ma­le Geschich­te, die mich mit dem Buch ver­bin­det. Die­sen Titel wer­de ich nicht aus mei­ner bel­le­tris­ti­schen Käfig­hal­tung, sprich, aus mei­ner pri­va­ten Biblio­thek, befreien.

Hein­rich Böll, Dr. Mur­kes gesam­mel­tes Schweigen

Ein Radio­re­por­ter, Dr. Mur­ke, über­ar­bei­tet Inter­views, d.h., er schnei­det alle „Ähs“, „Hms“, Stot­te­rer, Schwei­gen, Denk­pau­sen und Ver­spre­cher aus den Ton­bän­dern, wirft die Schnip­sel aber nicht weg, son­dern sam­melt sie in einer Ziga­ret­ten­schach­tel und setzt sie zu einem eige­nen neu­en Ton­band zusam­men, zum “gesam­mel­ten Schweigen”.

Ich muss 12, 13 Jah­re alt gewe­sen sein, als wir in der Schu­le gemein­sam die­sen Text lasen. Böll leb­te noch und hat­te erst kürz­lich den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhal­ten. Wohl ein Grund, dass der Deutsch­leh­rer die­ses Werk als Klas­sen­lek­tü­re aus­such­te, denn sonst stand die­sem Leh­rer der Sinn eher nach dem Schwei­gen im Wal­de,  der Axt im Haus und dem Dolch im Gewan­de.

In der Erzäh­lung wird ein Stu­dio­mit­ar­bei­ter „schwu­les Kamel“ genannt.
Auf die Fra­ge des Leh­rers, ob wir alles  ver­stan­den hät­ten, mel­de­te ich mich und frag­te: „Was ist ein schwu­les Kamel?“. 

Ehr­lich, ich wuss­te es tat­säch­lich nicht, die Fra­ge war also kei­ne Pro­vo­ka­ti­on eines vor­lau­ten Schü­lers. An der Hei­ter­keit der Klas­se merk­te ich, dass ich da offen­bar unbe­ab­sich­tigt in einen Fett­napf getre­ten war. Die einen lach­ten über mei­ne ver­meint­li­che Unwis­sen­heit, die ande­ren lach­ten über mei­ne ver­meint­li­che gut geziel­te Pro­vo­ka­ti­on. Der Leh­rer aber wur­de ver­le­gen und mein­te, ich sol­le mei­ne Eltern fragen.

So weit so gut. In der fol­gen­den Pau­se kam Bea­tri­ce K., eine Mit­schü­le­rin, zu mir und erklär­te, schwul bedeu­te HS. „Ach so, dann ist ja alles klar“, sag­te ich ab- und ver­meint­lich auf­ge­klärt. Bloss, ich hat­te nach wie vor kei­ne Ahnung, HS?. Das mit der absicht­li­chen Pro­vo­ka­ti­on, habe ich spä­ter zum Selbst­schutz kultiviert.

Mor­gen wer­den die Stimm­be­rech­tig­ten der Schweiz abstim­men über ein Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung auf­grund einer sexu­el­len Ori­en­tie­rung. Das  Ergeb­nis der Abstim­mung steht zum Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung die­ses Bei­trags noch nicht fest. Der Bei­trag wur­de auch nicht zu die­ser Abstim­mung geschrieben.
Zu fra­gen bleibt: Darf ein nach­ma­li­ger Lite­ra­tur-Nobel-Preis-Trä­ger unge­straft in einem Text eine lite­ra­ri­sche Figur als “schwu­les Kamel” bezeich­nen? Wer wird hier belei­digt? Eine lite­ra­ri­sche Figur? Ein Kamel? Muss der Autor den Preis zurück­ge­ben, wird die­ser ihm nach­träg­lich abge­spro­chen? Und wer fragt die Kamele?

Hier fin­den Inter­es­sier­te alle in die­ser Rubrik bereits erschie­ne­nen Beiträge.

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