Ich sah Kin­der Dra­chen bas­teln aus alten Zel­ten, die Dra­chen flo­gen nicht, ein Gewit­ter flog über das Feld, Hagel auf Zel­te, in einem der Zel­te lag ein drei Tage altes Kind.

Und Mesut erzähl­te mir sei­ne Geschich­te der Flucht, vom Fah­ren über das Meer, vom Gehen bis zu die­ser Gren­ze, vom Ankom­men, einen Tag zu spät, die Gren­ze dicht. Wir wür­den ger­ne in die Schweiz, sag­te er und sei­ne Schwes­ter Sel­ma stand vor der grü­nen Land­schaft in ihrem schwarz gelb gepunk­te­ten Kleid, vor der Aus­sicht nach Maze­do­ni­en, vor dem dun­kel­gel­ben Son­nen­licht. Mach ein Foto, sag­te sie zu ihrem klei­nen Bru­der. Abi, für die Fami­lie, als Erin­ne­rung für mich.

Ich sah Men­schen aus Hol­land Sup­pe kochen in Töp­fen gross wie Kir­chen­glo­cken. Sie hör­ten dabei Musik, tanz­ten zu Bey­on­ce, dreh­ten die Kel­len in den Töp­fen, ver­jag­ten Hüh­ner und Hun­de vom Hof. Sie schäl­ten Toma­ten, zer­hack­ten Kräu­ter, leg­ten sich zwi­schen­durch hin. Im Schat­ten schlie­fen Hun­de und Men­schen, einer setz­te sich zum Topf Put­zen in den Topf, den er putz­te, hin­ein. Ich sah syri­sche Frau­en aus dem Camp in die­ses Haus am Stadt­rand kom­men, um zu zei­gen, wie man in ihrer Hei­mat kocht.
Von dem, sag­ten sie.
Von dem, und das muss hinein.
Ich sah eine schwarz geklei­de­te schwer­hö­ri­ge Grie­chin, sie schrie die syri­schen Frau­en an. Cali­me­ra, schrie sie.
Syria, schrien die Frau­en zurück.

Ich sah wie die Sup­pe in Bus­se gela­den wur­de, sah hun­der­te Men­schen war­ten, auf die Sup­pe, Was­ser, am Wald­rand. Ich sah links die Frau­en, rechts die Män­ner ste­hen und Kin­der zwi­schen­drin. Ich  sah Spa­nie­rin­nen Sup­pe schöp­fen stundenlang.

Ich sah Bel­gi­er im Wareh­ouse ste­hen, einer Lager­hal­le aus­ser­halb der Stadt Poly­kas­tro. Ich sah sie Klei­der sor­tie­ren. Ein Fran­zo­se war bleich zwi­schen den hun­dert Kis­ten, ver­such­te die Kis­ten zu ord­nen und als er eine Ord­nung hat­te, kam aus Ita­li­en ein Last­wa­gen mit neu­er Ware an. Es roch nach Schweiss, nach Staub, es roch nach Hund, es roch nach dem, was Euro­pa auch noch sein kann.

Ich sah die Gren­ze in Ido­me­ni, dahin­ter Maze­do­ni­en, sein Mili­tär, davor ein Tüm­pel, 9930 Men­schen, ein Mäd­chen in einem Kleid, auf dem stand: girl from paradise.

Ich sah das Gewit­ter in Maze­do­ni­en ste­hen, der Wind riss an den Zel­ten und einem bri­ti­schen Zau­be­rer mit gros­ser Nase ver­schwand ein Tuch in der Hand. Er stand sehr gera­de, der Zau­be­rer, jeden Tag stand er da mit sei­ner Trom­pe­te im Staub und war­te­te auf die Kin­der, ich schau­te ihn ger­ne an. Er lach­te und lach­te und dann spä­ter beim Ver­las­sen des Camps, nahm er sich selbst in den Arm.

Ich sah einen Pop­star mit Botox­ge­sicht aus sei­nem sil­ber­nen Wagen stei­gen, sah ihn zwan­zig Was­ser­fla­schen in die Men­ge wer­fen, dann stieg er ein, fuhr davon. Hin­ter dem Wagen ging ein Jun­ge, er frag­te, ob der Mann die Gren­ze öff­nen kann.

Ich sah wie Decken ver­teilt wur­den und nie waren es Decken genug. Ich sah Vic­tor in einem klei­nen Auto hin und her und hin und her fah­ren, von Poly­kas­tro nach Ido­me­ni, brach­te Kis­te um Kis­te zu den Men­schen hin. Ich bin ganz hyper­ak­tiv, sag­te Vik­tor, schau­te mich mit sei­nen wil­den Augen an, frü­her war das ein Pro­blem, aber hier ist klar, was ich damit aus­rich­ten kann.

Ich sah die Son­ne in Ido­me­ni und es gab kei­nen Wind. Es gab die Glei­se Rich­tung Nor­den, das Feu­er zwi­schen den Glei­sen, die Wäsche an den Wäsche­lei­nen zwi­schen Strom­mas­ten gespannt, und in einem Zelt das nun bereits sechs Tage alte Kind. Ich sah Kin­der älter wer­den, viel zu schnell und  zu vie­le Kin­der sah ich krank. Es flo­gen Flug­blät­ter der Poli­zei als Flug­zeu­ge am Him­mel, auf den Blät­tern stand geschrie­ben, wo man in Grie­chen­land bes­ser leben kann. Nie­mand trau­te den Blät­tern, sie flo­gen in der Luft und über ihnen der Heli­ko­pter der Polizei.

Ich sah den Pro­test gegen das Ver­ges­sen von Men­schen. Ich sah die Hil­fe als Pro­test gegen das Ver­ges­sen, das Put­zen als Pro­test gegen das Ver­ges­sen, die Bana­ne als Pro­test, die Sup­pe, das Gemü­se, die Klei­der, das Pfle­gen, das Ver­arz­ten, das Bas­teln von Dra­chen als Pro­test, das Reden, das Erzäh­len, das Zuhö­ren, das Fal­ten von Klei­dern. Ein Zau­bern als Pro­test gegen das Ver­ges­sen der Men­schen, deren Pro­ble­me nicht unse­re sind.

Und dann ging ich zurück in die Schweiz und Ido­me­ni ver­schwand, aus mei­nen Augen und wur­de ein paar Tage spä­ter geräumt. Ich schrieb Mesut und frag­te ihn, wie es ihm geht. Und Mesut spricht noch immer Deutsch, kein Grie­chisch, sitzt in Grie­chen­land, spricht vom schö­nen Grie­chen­land, den Men­schen, die selbst wenig haben, hält sei­nen klei­nen Bru­der im Arm.
Abi, sag­te er damals.
Abi, es gibt viel­leicht eine Zukunft für dich.
Und der Bru­der geht noch immer nicht zur Schu­le, liegt in der Son­ne, duscht sich aus Pet­fla­schen, liegt am Abend in Mesuts Arm. Und Mesut kann noch immer nicht schla­fen, weil er nicht weiss, ob es für sei­nen Abi eine Zukunft geben kann. Und Sel­ma ist noch immer die schöns­te Schwes­ter in Grie­chen­land, in ihrem gelb schwarz gepunk­te­ten Kleid.
Sel­ma nahm mir Haa­re vom Pullover.
Du musst dich käm­men, sag­te sie zu mir, min­des­tens ein­mal am Tag. Das musst du für dei­ne Schön­heit tun.
Und Sel­ma kämmt sich noch immer die Haa­re, ein­mal am Tag, viel­leicht, weil sie hof­fent­lich immer noch an eine Zukunft glau­ben kann.

Ich habe lan­ge nichts gehört von Mesut und sein Abi ist viel­leicht in Grie­chen­land, geht viel­leicht zur Schu­le, hat viel­leicht eine Zukunft, sieht viel­leicht den Zau­be­rer mit sei­ner Trom­pe­te, viel­leicht isst er Auber­gi­ne mit Ei, viel­leicht ist er in der Tür­kei, viel­leicht hat er Angst, viel­leicht nicht, viel­leicht sieht er heu­te ein Feu­er­werk, viel­leicht liegt er in Mesuts Arm, viel­leicht duscht er, viel­leicht bekommt er Sup­pe, viel­leicht ist Sel­ma noch immer schön.

 

Julia Weber wur­de 1983 in Moshi, am Süd­hang des Kili­man­ja­ro (Tan­sa­nia), gebo­ren. 1985 kehr­te sie mit ihrer Fami­lie nach Zürich zurück, dort leb­te und arbei­te­te sie bis im Jahr 2009. Von 2009 bis 2012 stu­dier­te sie lite­ra­ri­sches Schrei­ben am Schwei­ze­ri­schen Lite­ra­tur­in­sti­tut in Biel/Bienne. 2012 hat sie den Lite­ra­tur­dienst (literaturdienst.ch) gegrün­det. Seit 2012 arbei­tet und lebt Julia Weber mit ihrem Mann und ihrem Kind in Biel, Zürich und Berlin.

Der Text wur­de uns unent­gelt­lich vom Netz­werk »Kunst+Politik« zur Ver­fü­gung gestellt. Alle Tex­te zum The­ma »Nach Euro­pa« sind hier zu fin­den. Das Titel­bild ist von Rue­di Widmer.

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