Die Erfah­run­gen wäh­rend ihres kur­zen Spa­ni­en­auf­ent­hal­tes 1936 lies­sen Simo­ne Weil, wie wir gese­hen haben, ziem­lich illu­si­ons­los zurück. Zwar hat­te sie schon 1934 ein­mal  geschrie­ben: “Von den Men­schen ist kei­ne Hil­fe zu erhof­fen.” Aber erst jetzt, da sie erken­nen muss­te, dass auch in Spa­ni­en die Idea­le einer brü­der­lich-schwes­ter­li­chen mensch­li­chen Gemein­schaft, wie sie es sich erträumt hat­te, eben genau das geblie­ben war — ein Ide­al, das mit der Wirk­lich­keit oft nicht über­ein­stimm­te, mach­te sie sich auf die Suche nach etwas jen­seits der gän­gi­gen poli­ti­schen und sozia­len Bestrebungen.

Simo­ne Weil ent­stamm­te zwar einem jüdi­schen Hau­se. Aber mit dem Juden­tum als Reli­gi­on fühl­te sie sich nicht ver­bun­den. Ihre Eltern waren Frei­geis­ter gewe­sen, und sie hat­te noch nie eine Syn­ago­ge von innen gese­hen. Viel­leicht des­halb fand sie den Zugang zu einer spi­ri­tu­el­len Ebe­ne nicht über die jüdi­sche Mys­tik mit ihrer jahr­hun­der­te­al­ten qab­ba­lis­ti­schen Tra­di­ti­on, son­dern über den Kon­takt mit dem Christentum.

Im Früh­jahr 1937 reis­te sie zum ers­ten Mal nach Ita­li­en und war von der Land­schaft, den Men­schen und dem reich­hal­ti­gen kul­tu­rel­len Erbe fas­zi­niert. Rom und Flo­renz mit ihren gross­ar­ti­gen Muse­en beein­druck­te sie, aber die tiefs­te Erfah­rung, die ihr Leben in eine neue Bahn len­ken soll­te, mach­te sie in Assi­si: “Als ich dort in der klei­nen roma­ni­schen Kapel­le aus dem 12. Jahr­hun­dert, San­ta Maria degli Ange­li, die­sem unver­gleich­li­chen Wun­der an Rein­heit, wo der hei­li­ge Franz so oft gebe­tet hat, allein war, da zwang mich etwas, das stär­ker als ich selbst war, zum ers­ten Mal in mei­nem Leben auf die Knie.”

Dies war der Beginn einer Rei­he von mys­ti­schen Erfah­run­gen mit Chris­tus. Beim Rezi­tie­ren des berühm­ten Gedichts eines eng­li­schen Dich­ters aus dem 17. Jhdt., Geor­ge Her­bert, mit dem Titel “Love”, hat­te sie die Emp­fin­dung: “Chris­tus in Per­son ist her­ab­ge­stie­gen und hat mich ergrif­fen.” Sie war in der Mit­tei­lung ihrer inne­ren Erfah­run­gen sehr zurück­hal­tend, aber in einem ihrer post­hum ver­öf­fent­lich­ten Tage­bü­cher fin­det sich eine sol­che Schil­de­rung: “Er trat in mein Zim­mer und sag­te: “Elen­de, die du nichts ver­stehst, nichts weisst. Komm’ mit mir und ich wer­de dich Din­ge leh­ren, die du nicht ein­mal ahnst”. Ich folg­te ihm … Manch­mal schwieg er, nahm aus dem Wand­schrank Brot, und wir teil­ten es. Die­ses Brot hat­te den Geschmack wah­ren Bro­tes. Nie wie­der soll­te ich den­sel­ben Geschmack ken­nen. In mein Glas und in das sei­ne goss er Wein, der nach Son­ne duf­te­te und nach Erde, auf der die Stadt erbaut war. Manch­mal streck­ten wir uns auf dem Boden der Man­sar­de aus, und die Won­ne des Schla­fes senk­te sich auf mich. Dann erwach­te ich und trank das Son­nen­licht. Eines Tages sag­te er zu mir: “Und jetzt, geh!” Ich fiel zu Boden, umfing sei­ne Knie, ich fleh­te ihn an, mich nicht fortzuschicken.”

Die Par­al­le­len zu den Erfah­run­gen christ­li­cher Mys­ti­ker und Mys­ti­ke­rin­nen wie The­re­sa von Avila, Johan­nes vom Kreuz oder Hil­de­gard von Bin­gen sind unübersehbar.

Simo­ne Weil trat in einen inten­si­ven Brief­wech­sel mit Joseph-Marie Per­rin, einem Domi­ni­ka­ner-Pri­or, und lern­te auch ande­re Ver­tre­ter der katho­li­schen Kir­che ken­nen. Doch immer unüber­seh­ba­rer wur­de der Gra­ben, der sie von einem Bei­tritt zum kirch­li­chen Chris­ten­tum trenn­te. Unüber­seh­bar war der Gra­ben zwi­schen dem Anspruch der Uni­ver­sa­li­tät des Katho­li­zis­mus und der his­to­ri­schen Rea­li­tät: “So vie­le Din­ge blei­ben aus­ser­halb sei­nes Gesichts­krei­ses, so vie­le Din­ge, die Gott liebt, denn ansons­ten hät­ten sie kei­ne Exis­tenz. Die unge­heu­re Dimen­si­on der ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­te, mit Aus­nah­me der letz­ten zwan­zig; alle von far­bi­gen Ras­sen bewohn­te Län­der; das gesam­te welt­li­che Leben in den Län­dern der weis­sen Ras­se; alle dort als häre­tisch beschul­dig­ten Tra­di­tio­nen wie die der Manich­ä­er und Albigenser; …”

In einem Brief an Per­rin schrieb sie schliess­lich: “Ich glau­be, man kann jetzt end­lich fol­gern, dass Gott mich nicht in der Kir­che haben will.” Gera­de am Schick­sal der Manich­ä­er und Albi­gen­ser (Katha­rer) wur­de ihr der tota­li­tä­re Cha­rak­ter der mit­tel­al­ter­li­chen Kir­che bewusst: “Nach dem Unter­gang des Römi­schen Rei­ches, das tota­li­tär gewe­sen war, hat zuerst die Kir­che im 13. Jdht. … einen Tota­li­ta­ris­mus begrün­det. Die­ser Baum trug zahl­rei­che Früchte.”

Umso­mehr zog sie die okzita­ni­sche Kul­tur des 12. Jhdts. im Süd­wes­ten Frank­reichs an. Über die eigent­li­che Dok­trin der “Catha­ri” wird in der Geschichts­wis­sen­schaft bis heu­te gestrit­ten. Tra­di­tio­nel­ler­wei­se unter­stell­te man ihnen ein radi­ka­les “Schwarz-Weiss”-Denken: Die mate­ri­el­le Welt sei grund­sätz­lich böse und abzu­leh­nen, Welt­flucht hin zum rein Geis­ti­gen sei ange­sagt. Die­sem Bild wider­spricht aller­dings die kul­tu­rel­le und wirt­schaft­li­che Blü­te und die gerech­te sozia­le Ord­nung, wel­che die okzita­ni­sche Welt auszeichnete.

Deren Aus­strah­lung war schliess­lich so gross, dass die Päps­te zusam­men mit dem fran­zö­si­schen König­tum zu einem eigent­li­chen Kreuz­zug gegen die Katha­rer auf­rie­fen. Es war das ers­te gros­se Mas­sa­ker inner­halb der west­li­chen Chris­ten­heit. Die Katha­rer wur­den mas­sen­wei­se gefol­tert und getö­tet, ihre Städ­te geplün­dert und ver­nich­tet. Als beson­ders berüch­tigt ist die Erobe­rung von Béziers in Erin­ne­rung geblie­ben: Prak­tisch die gesam­te Ein­woh­ner­schaft — 20’000 Män­ner, Frau­en und Kin­der — wur­de gna­den­los mas­sa­kriert. Was vom Kathar­er­tum über­leb­te, fiel der nach­fol­gen­den Inqui­si­ti­on zum Opfer.

Simo­ne Weil hat­te sich neben ihrer Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Chris­ten­tum auch inten­siv mit grie­chi­scher Phi­lo­so­phie, mit Bud­dhis­mus und Hin­du­is­mus aus­ein­an­der­ge­setzt. In der Kul­tur der Katha­rer erkann­te sie ihr eige­nes spi­ri­tu­el­les Stre­ben wie­der: “Wie wenig man von den Katha­rern auch kennt, so scheint es doch deut­lich, dass sie irgend­wie Erben des pla­to­ni­schen Den­kens gewe­sen sind, der Geheim­kul­te und Mys­te­ri­en jener vor­rö­mi­schen Zivi­li­sa­ti­on, die das Mit­tel­meer und den Nahen Osten umfass­te. Und, wie zufäl­lig, ver­wei­sen man­che Aspek­te ihrer Dok­trin zugleich auf den Bud­dhis­mus, auf Pytha­go­ras, Pla­to sowie auf die drui­di­sche Leh­re, die ehe­mals den glei­chen Boden geprägt hatte.”

Doch keh­ren wir zurück zum äus­se­ren Lebens­gang Simo­ne Weils. Im Okto­ber 1940 war sie in Mar­seil­le, der “zone lib­re” ange­langt, um dem Zugriff der deut­schen Besat­zer zu ent­ge­hen. Dort nahm sie Ver­bin­dung zu der sich for­mie­ren­den Wider­stands­grup­pe unter der Lei­tung des Jesui­ten Pater Chail­let auf. Dar­über mehr in unse­rer nächs­ten Fol­ge wie üblich am

Sa, den 10. Oktober

 

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