… in der Sie die Hauptrolle spielen!
Stellen Sie sich also vor: Es ist Samstag. Sie stehen am Morgen in Ihrer Birsfelder Wohnung wie üblich auf, duschen, kleiden sich an, frühstücken und gehen Ihr Tagesprogramm durch: Einkauf in der Migros, dann Bummel in der Innenstadt, um eine neue Jacke zu kaufen. Am Nachmittag holen Sie am Flughafen Bekannte ab, die für ein paar Tage nach Basel kommen.
Auf dem Weg zur Migros müssen Sie noch kurz tanken. An die 15 Überwachungskameras, die Sie auf der relativ kurzen Strecke begleiten, haben Sie sich schon seit längerer Zeit gewöhnt. An der Tankstelle zeigen Sie Ihre Identitätskarte. Nur so ist Tanken überhaupt möglich. Sie wissen, dass eine Überwachungskamera Ihre Fahrzeugnummer mit dem Fahrzeugregister abgleicht. Ein Nachbar wollte letzthin mit dem Auto einer Bekannten tanken. Das ist ihm schlecht bekommen. Er wurde gleich verhaftet und man munkelt, er sei zum Studium geschickt worden.
Im Migros haben Sie ein Problem: Sie dürfen trotz des Besuchs nicht zuviel einkaufen, sonst registriert das der Scanner, und Sie machen sich verdächtig. Aber zum Glück konnten Sie sich gestern auf dem Schwarzmarkt noch mit etwas Gemüse eindecken.
Im Tram fallen Ihnen die Kameras gar nicht mehr auf. Am Barfi steigen Sie aus und gehen zur Freien Strasse. Auf dem Weg dahin kommt plötzlich ein Polizist in Zivil auf Sie zu und bittet Sie diskret zur Seite. Er checkt sein Smartphone und möchte von Ihnen wissen, wen Sie gestern in Münchenstein im Café du Coeur getroffen haben. Eine App hat ihn aufgefordert, Sie auszufragen. Sie erlaubt ihm, sofort nachzuprüfen, welche Orte Sie in den letzten 24 Stunden besucht haben.
Sie wissen, dass Sie, seitdem Sie vor zwei Jahren eine Überwachungs-App auf Ihrem Handy installieren mussten, zu einem „gläsernen Menschen“ geworden sind. Es scannt Ihr Handy automatisch nach Inhalten, welche den Behörden nicht genehm sind, — ganz abgesehen davon, dass sämtliche Daten zur Internetnutzung und Chats in der “Integrierten gemeinsamen Operationsplattform” gespeichert werden. Kürzlich wurde eine ganze Familie in Ihrer Nähe in ein Berufsbildungszentrum geschickt, weil sie WhatsApp installiert hatten — eine ganz, ganz schlechte Idee …
Das ist ziemlich ärgerlich, — aber was soll man machen? Vor einem Jahr hatten Sie hingegen die gute Idee, einfach auf das Handy zu verzichten. Doch dann tauchten plötzlich ein paar Herren auf und machten Ihnen klar, dass man sich ohne Handy verdächtig mache und eventuell zum Studium antraben müsse.
Verdächtig sein — nur das nicht! Ihr Bruder, der in Liestal wohnt, gehört neuerdings in diese Kategorie. Er ist im Wohlverhalten-Index unter 60 Punkte gefallen und darf nur noch begrenzt reisen. Er muss sich regelmässig bei den Behörden melden und hat gerade festgestellt, dass er nicht nur wie Sie im Gesichtserkennungsregister zu finden ist, sondern neuerdings sogar von einem neu entwickelten Stimmenscanner im Café erkannt werden kann.
Der Polizist lässt Sie laufen, — nochmals Glück gehabt! Die Lust zum Einkaufen ist Ihnen aber jetzt vergangen. Lieber eine kleine Siesta zu Hause, bevor es zum Flughafen Basel-Mülhausen geht.
Am Flughafen müssen Sie dann ziemlich lange warten, bis Sie den Checkpoint mit dem Iris-Scanner passieren können. In der Flugempfangshalle entdecken Sie neben den altbekannten Überwachungskameras neue kleine Boxen. Aha, das müssen die neuen Wifi-Sniffer sein, die überall an öffentlichen Orten den Datenverkehr von drahtlosen Netzwerken überwachen.
Ihre Bekannten treffen pünktlich ein. Alles bestens, — doch dann kommt die Meldung, das die Busse in die Stadt für längere Zeit ausfallen. Verflixt, — jetzt müssen Sie halt ein teures Taxi nehmen. Dort fallen Ihnen sofort zwei Kameras auf. Eine ist auf den Beifahrersitz gerichtet, die andere auf die Rückbank. Als Sie den Taxifahrer leise darauf ansprechen, flüstert er Ihnen zu: „Das wurde vor über einem Jahr angeordnet. Die Kameras sind direkt mit der öffentlichen Sicherheit verbunden, sie gehen aus und an, wenn die es wollen. Wir haben darauf keinen Einfluss.“
Zuhause angekommen, machen Sie es sich mit Ihren Bekannten erst mal etwas gemütlich. Da klopft es an der Türe. Das muss der Nachbar sein, der Mitglied beim örtlichen Parteikomitee ist. Tatsächlich, er erkundigt sich freundlich nach Ihrem Besuch, stellt ein paar Fragen und scannt dann beim Hinausgehen noch den Strichcode-Aufkleber an der Türe, mit dem er nachweisen kann, dass er seine Pflicht erfüllt hat.
Jetzt steht einem fröhlichen restlichen Wochenende nichts mehr im Wege!!
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Soweit Ihre Geschichte. Oder war es nur ein Albtraum, zusammengesetzt aus einer modernisierten Version von George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“?
Nun, vielleicht ist Ihnen beim Lesen schon klar geworden: Es ist weder das eine noch das andere, sondern einfach die Realität von ein paar Millionen Uiguren, einer muslimischen Minderheit im Westen Chinas. „Studium“ und „Berufsbildungszentren“ sind von Chinas Regierung benutzte euphemistische Bezeichnungen für Umerziehungslager, in denen sich zurzeit gemäss den Vereinten Nationen über eine Million Menschen befinden. Sämtliche Details zur Überwachung in der Geschichte sind authentisch und belegt. Die Überwachung ist strenger als in Nordkorea oder in Tibet.
Eigentlich müssten von westlicher Seite oder muslimischen Staaten offizielle Proteste erwartet werden. Nichts dergleichen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit China sind zu gross. Menschenrechte sind ja schön und ehrenwert, — aber die Uiguren sind weit weg, und Business geht halt immer noch vor …