Ich bin Europäerin. Würde ich tot in den USA an Land gespült, würde man mich dort als Cau­casian Female. Late For­ties einord­nen. Auf­grund der Titan­schraube in meinem Knie würde ich schliesslich iden­ti­fiziert. Deutsche. Schweiz­erin durch Ein­bürgerung.

Where do you come from? Europe! Con­ti­nent or con­cept?

Ich bin Europäerin. Vor ein paar Tagen stand ich in Oxford vor Sap­phos Gedicht­frag­menten, der Magna Car­ta, der Hand­schrift von Kafkas Ver­wand­lung, der Chan­son de Rolande, vor Dorothy Hodgkins Arbeit über das Penizillin. Die Schätze der Bodleian Library. Alles aus Europa.

Europa. Das bedeutet: Die mit der weit­en Sicht. Euro­pean Union: ein Euphemis­mus.

Ich bin Europäerin. Vor zwei Wochen stand ich im Lon­don­er Dock­land-Muse­um vor dem Tisch von Thomas Fow­ell Bux­ton, der vor knapp 200 Jahren im House of Com­mons die Abschaf­fung der Sklaverei gefordert hat. Kolo­nial­is­mus. Sklaverei. Aus­beu­tung, Massen­mord. Alles aus Europa.

There is no such thing as Splen­did Iso­la­tion. Es gibt sie nicht, die Insel der Seli­gen.

Ich bin Europäerin. Und EU-Bürg­erin. Ich habe am Tag des Ref­er­en­dum in Lon­don einen «I’m in»-Button getra­gen. Und auch noch am Tag danach. Ich bin drin. «Me too!», haben die Leute in der Tube zu mir gesagt, «Me too!» Oder «I wish you still were.» Sie haben mich für eine Britin gehal­ten.

Das einzige Land, in dem der Europatag ein geset­zlich­er Feiertag ist, ist der Koso­vo.

Ich bin Europäerin. Wer wäre ich ohne Nation­al­ität (ich meine nicht ohne Papiere, Sans-Papiers)? Ohne Nation­al­ität zu sein, stelle ich mir ent­las­tend vor. Nicht bloss, weil ich als Deutsche geboren wor­den bin.

In Oxford ist auch das Typoskript der proeu­ropäis­chen Rede von Sir Geof­frey Howe aus­gestellt. Es heisst, diese Rede habe 1990 Mag­gie Thatch­er zu Fall gebracht.

Ich bin Europäerin. Und EU-Bürg­erin. Sowohl in Eng­land nach dem Brex­it als auch in der Schweiz nach dem Ja zur Massenein­wan­derungsini­tia­tive haben sich Men­schen bei mir entschuldigt, für die andere, die grössere, die erfol­gre­iche Hälfte.

11% der Lon­doner­In­nen haben sich Anfang Juli in ein­er Umfrage des Guardian für ein unab­hängiges Lon­don in der EU aus­ge­sprochen. 60% der befragten Schweiz­erIn­nen stimmten im Früh­ling 2016 der Aus­sage zu, dass die EU für Frieden sorge.

Ich bin Europäerin. In den 90ern war ich Lei­t­erin bei Inter­na­tionalen Jugend­begeg­nun­gen. Mit Jugendlichen aus Est­land, Israel, Palästi­na, Mal­ta, Polen, Deutsch­land, Ital­ien usw. Ich habe immer geglaubt, dass es hil­ft, sich ken­nen zu ler­nen. Dass nichts so sehr das Inter­esse an einem anderen Land weckt, nichts so sehr die Offen­heit fördert, wie per­sön­liche Kon­tak­te. Die meis­ten haben sich natür­lich ver­liebt.

Die Schlange beim Ein­reis­eschal­ter für EU und Schweiz am Flughafen ist oft länger als die für alle anderen. Der Club ist nicht mehr so exk­lu­siv wie auch schon. Aber es gibt noch genug Län­der, die sich seit Jahren um einen Beitritt bemühen. Die nicht frei­willig draussen sind.

Ich bin Europäerin. Gen­er­a­tion Nato-Dop­pelbeschluss. Gen­er­a­tion Oster­märsche. Als ein US-Reise­un­ternehmen mit dem Slo­gan Besuchen Sie Europa, solange es noch ste­ht gewor­ben hat. Als wir dacht­en, die Gefahr würde von aussen kom­men. Dabei hät­ten wir (in Deutsch­land) es doch bess­er wis­sen müssen.

2015 star­ben allein auf dem Mit­telmeer über 3 600 Men­schen bei dem Ver­such, in die EU zu gelan­gen.

Ich bin Europäerin. Ich glaube an die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion. Daran, dass es gut ist, wenn die Nation nicht das Non plus Ultra ist. Ich glaube, dass Europa sich nach 1945 auf wichtige gemein­same Werte ver­ständigt hat. Ich glaube nicht, dass Abschot­tung dazuge­hört. Kap­i­tal­is­mus auch nicht.

Zwis­chen 1959 und 2015 wurde die Schweiz vom Europäis­chen Gericht­shof 97mal wegen eines Ver­stoss­es gegen die Europäis­che Men­schen­recht­skon­ven­tion verurteilt. Ital­ien 1781mal, Frankre­ich 708mal, Öster­re­ich 250mal, Deutsch­land 182mal, um nur die Nach­barn zu nen­nen.

Ich bin Men­sch. Aus der Gen­er­a­tion Click-for-Change. Und auch wenn das bloss ein Engage­ment mit beschränk­ter Risikobere­itschaft ist, begeis­tert es mich, wenn ich sehe, dass ich eine Online-Peti­tion unmit­tel­bar nach ein­er Mon­golin, einem Finnen, vor einem Nige­ri­an­er und ein­er Peru­aner­in unter­schrieben habe. Und nicht nur beim Ein­satz für Wale und Ele­fan­ten, son­dern auch für Indi­ge­nen­rechte, gle­ichgeschlechtliche Ehe, Abschaf­fung der Todesstrafe.

Die mito­chon­dri­ale Eva, gemein­same Vor­fahrin aller heute leben­den Men­schen, hat mit gross­er Wahrschein­lichkeit in Afri­ka gelebt.

 

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düs­sel­dorf, lebt seit 2002 in der Schweiz, seit 2015 als Stimm­bürg­erin. Sie hat die let­zten sechs Monate mit dem Landis&Gyr-Stipendium in Lon­don ver­bracht. Nach zwei Roma­nen erschien 2015 der Erzählband Draussen um diese Zeit.

Der Text wurde uns unent­geltlich vom Net­zw­erk »Kunst+Politik« zur Ver­fü­gung gestellt. Alle Texte zum The­ma »Nach Europa« sind hier zu find­en. Das Titel­bild ist von Rue­di Wid­mer.

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