Und hier eine Buchgeschichte, nicht die Geschichte, die im Buch erzählt wird, nicht die Geschichte des Buches, nein eine minimale Geschichte, die mich mit dem Buch verbindet. Diese Titel werde ich nicht aus meiner belletristischen Käfighaltung, sprich, aus meiner privaten Bibliothek, befreien.
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Die Landstörzerin Courasche
Bertold Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder
Es muss 1990/91 gewesen sein. Land- und Regierungsratswahlen in Liestal standen an. Der Wahlkampf der Parteien und Kandidaten war unübersehbar. Den Regierungskandidaten wurden von einem Presseerzeugnis Fragen gestellt, an alle die gleichen. Fragen zwischen blöd und anspruchsvoll. Ein Vorgehen, das auch heute noch üblich ist, kann man doch so bei geschickter Fragestellung Widersprüche aufdecken. Egal
Eine Frage war: Welches ist „Ihre“ weibliche Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts?
Da antwortete doch ein freisinniger Kandidat tatsächlich: „Mutter Courage“.
Verunsichert nahm ich damals die beiden Titel wieder aus meiner Käfighaltung und las nochmals nach, was Grimmelshausen und Brecht mit und aus dieser Courage gemacht hatten und warum.
Grimmelshausen (1622 — 1676):
“Eine Zigeunerin, eine Erzbetrügerin, kein Ehr und Tugend, ein liederliches Leben, leichtfertig und böse, stolz auf ihre Betrügereien.”
Brecht (1898 — 1956):
“Naive kleine Händlerin, will mit dem Krieg Geld machen, Rebellin gegen Macht und Religion, drei Kinder von drei verschiedenen Männern, Kleinbürgerin, die unter den Mächtigen leidet, sich dennoch an ihnen orientiert.”
Frage:
Warum um Himmelswillen denkt ein freisinniger Regierungsrats-Kandidat so etwas und entblödet sich nicht, dieses im Wahlkampf zu sagen und zulassen, das es zitiert wird?
Und warum um Himmelswillen macht ihn niemand aus seinem Wahlkampfteam auf diesen Unsinn aufmerksam?
Möglichkeit 1:
Er bewundert die Frau Courage als Gründerin eines Start-Ups, einer eigenen Ich-AG oder einem KMU-Unternehhmen zur Gewinnoptimierung durch Kriegseinsätze.
Möglichkeit 2:
Er bewundert das sexuelle Selbstverständnis dieser fortschrittlichen Mutter. Sie braucht keinen Ernährer, bringt die Kinder von drei verschiedenen Vätern ohne Kita selber durch.
Möglichkeit 3:
Wo man Geschäfte machen kann, soll man das tun, egal womit, auch als Kriegsgewinnlerin.
Möglichkeit 4:
Der Kandidat rechnete bereits vor der Wahl damit, er würde dem Kanton Basellandschaft zwölf Jahre als Justizdirektor zur Verfügung stehen.Rechtzeitig zeigen, wie’s nach der Wahl weitergeht.
Möglichkeit 5:
Er sagt das, weil er keine Ahnung von der Literatur über die Courage hat, keinen Schimmer über den 30jährigen Krieg und worüber er redet, und, er unterstellt das auch seinem Wahlvolk. Zumal: Der Name Courage klingt gut und ist in allen Landessprachen verständlich.
Immerhin, mich hat es wieder einmal dazu gebracht, in meiner belletristischen Käfighaltung zwei Volieren zu öffnen.
Hier finden Interessierte alle in dieser Rubrik bereits erschienenen Beiträge.
max feurer
Jan 19, 2020
Ich weiss zwar nicht (mehr), wer damals der freisinnige Regierungskandidat war, aber ich tippe ganz klar auf Nummer 5.
Begründung:
Möglichkeit 1: Start-Ups und Ich-AGs waren damals noch kein Thema.
Möglichkeit 2 steht dem FDP-Credo diametral entgegen.
Möglichkeit 3 wäre theoretisch noch denkbar gewesen, aber ich gehe jetzt mal davon aus, dass auch FDP-Leute ein Gewissen haben können.
Möglichkeit 4: Seit wann kann die FDP in die Zukunft gucken!?
Kästli
Jan 19, 2020
Ueli — hoffe Du wirst noch einige solche “Büchervögel” aus
Deiner “Voliere“entlassen — das ist so gut , erheiternd ,
spannend .….. Danke Hans Kästli
P.S. Tippe auf Möglichkeit 3(1Zeile)
rugeli
Jan 19, 2020
Koellreuter?
Ueli Kaufmann
Jan 19, 2020
Andreas Koellreuter!