Der nach­fol­gende Text von Kurt Imhof ist unter dem Titel »Wer ist buerg­er­lich?« in Das Mag­a­zin 2007/42 erschienen. Dies ist ein Textfrag­ment (Schlussteil), den voll­ständi­gen Text find­en sie, wenn sie in der ersten Zeile auf den Titel klick­en. Dem voll­ständi­gen Text ist eine War­nung vor­angestellt: War­nung! Nach dieser Lek­tion kön­nten Bürg­er­liche merken, dass sie Unbürg­er­liche gewählt haben. Und umgekehrt. Der Text erscheint mit dem Ein­ver­ständ­nis des Autors.

Was ist denn heute noch bürg­er­lich?

Was ist nun seit diesen 1990er-Jahren bürg­er­lich? Patri­o­tis­che Gefüh­le kann man sich bei der SVP holen – allerd­ings nur in Kom­bi­na­tion mit einem antibürg­er­lichen Anti­etatismus, ein­er anti­hu­man­is­tis­chen Asylpoli­tik, ein­er Antivölk­er­recht­spoli­tik, ein­er Anti­sozial­re­form­poli­tik, ein­er Poli­tik der Steuerun­gerechtigkeit, ein­er Antikul­tur­poli­tik freysinger­schen Zuschnitts, einem der bürg­er­lichen Kul­tur kon­trären Per­so­n­enkult, ein­er im Kalten Krieg steck­en gebliebe­nen Lan­desvertei­di­gungspoli­tik und einem antilib­eralen Kampf gegen eine «Classe poli­tique», der man seit 1928 ange­hört. Zudem hat der Patri­o­tismus der SVP kein­er­lei Zukun­ft­sori­en­tierung: Er bezieht seine Kraft nur aus der Tat­sache, dass es kein anderes Pro­jekt Schweiz gibt. Der SVP-Patri­o­tismus ist auss­chliesslich neg­a­tiv geladen, dient also den Antis dieser Partei als meta­ph­ysis­ch­er Gral. Die Parteiführung der SVP hat der SVP den bürg­er­lichen Inhalt genom­men, beste­ht aber erfol­gre­ich auf der bürg­er­lichen Ver­pack­ung. Ihre Mit­glieder empfind­en sich gar als die einzig wahren Bürg­er­lichen.

Jedoch: Eine Auss­chaf­fungsini­tia­tive, die die Sip­pen­haft fün­fzig Jahre nach dem Zweit­en Weltkrieg wieder ein­führen will, der Kampf gegen eine imag­inierte «Classe poli­tique» in unser­er Demokratie, der Kampf gegen das human­itäre Völk­er­recht und zen­trale Insti­tu­tio­nen unseres Rechtsstaats, der Kampf gegen schwarze Schafe und der Per­so­n­enkult – das alles kann schlicht unter keinem Titel mehr als «bürg­er­lich» beze­ich­net wer­den.

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Beiträge von SVP-Mit­gliedern im Jahre 2012
zur Lösung der Asyl­prob­lematik

Dass die SVP das Etikett «bürg­er­lich» bis heute behal­ten kon­nte, negiert die Meta­mor­phose, die die Führung dieser Partei real­isiert hat. Die aller­meis­ten recht­spop­ulis­tis­chen und radikalen Parteien Europas, die solche Posi­tio­nen vertreten, sind neue Akteure, und nie­mand geste­ht diesen Kräften dieses ehrwürdi­ge Etikett der Aufk­lärung zu. Und natür­lich find­en wir Plakatierun­gen von der Qual­ität der drei und einem Schäfchen auch in anderen europäis­chen Län­dern. Nur: Dort fris­ten sie das Dasein von Affichen, die in der Nacht an Mauern gek­lebt wer­den, und erscheinen nicht flächen­deck­end an den teuer­sten Stan­dorten im öffentlichen Raum.

Dass das in der Schweiz möglich ist, hat jedoch auch eine erbärm­lich gewor­dene poli­tis­che Debat­te zur Ursache. In dieser reduzieren die Parteien zusam­men mit den Medi­en das Poli­tis­che auf das Rumkra­keele von Pfer­dewet­tren­nen, ohne die ele­mentaren Grund­la­gen poli­tis­ch­er Ori­en­tierung und poli­tis­ch­er Sprache noch ernst zu nehmen. Und exakt der­jenige, der am lautesten kra­keelt, erhält von den Gratiszeitun­gen bis zu den Ser­vice-Pub­lic-Medi­en mit Abstand am meis­ten Res­o­nanz. Kra­kee­len gehört zum Geschäft, nur noch Kra­kee­len verdirbt das Denken, das poli­tis­che Han­deln und die poli­tis­che Sprache. Ver­dor­benes poli­tis­ches Han­deln und Sprechen set­zt die Schweiz zu Recht ein­er irri­tierten Berichter­stat­tung der verbliebe­nen Qual­ität­szeitun­gen der Welt aus, denn die Banal­ität des Bösen begin­nt mit der Unfähigkeit, in der poli­tis­chen Kom­mu­nika­tion die gewach­se­nen Unter­schiede demokratis­chen Denkens von seinen Auswüch­sen zu unter­schei­den.

Wo ist nun das «Bürg­er­liche» der Schweiz hin? Wer küm­mert sich heute um das Gemein­we­sen Schweiz und ver­sucht es weit­erzuen­twick­eln? Poli­tis­che Kul­turen sind wider­ständig. Dabei han­delt es sich um ideelle Ressourcen, auf die immer wieder zurück­ge­grif­f­en wer­den kann. Natür­lich sind diese ideellen Ressourcen noch in den Gedär­men des Freisinns und auch der SVP vorhan­den. Erstere hat sich von sich selb­st ent­fremdet und ist auf Ori­en­tierungssuche. Bei Let­zter­er hat sich die Parteiführung von der Schweiz wie von bürg­er­lichem Denken und Han­deln ent­fremdet. Wenn wir jedoch auf die Ein­heit von innen und aussen Wert leg­en, dann hat das Bürg­er­liche allerd­ings das Lager gewech­selt. Dieses ist heute (noch) beim vor­mals Antibürg­er­lichen zu Hause.

Die Ver­bürg­er­lichung der Schweiz hat die ursprünglich strikt Antibürg­er­lichen zu Trägern bürg­er­lich­er Kul­tur gemacht: Die CVP, für die das Bürg­er­liche einst das Teu­flis­che selb­st verkör­perte, ver­sucht, rund um ihre Fam­i­lien­poli­tik Reste bürg­er­lichen Aus­gle­ichs und Mass­es zu find­en, und die anderen ein­sti­gen Vater­landsver­räter, die Sozialdemokrat­en, sor­gen sich um Sozial­re­for­men, die Steuerg­erechtigkeit, das Völk­er­recht, den Aus­bau des Rechtsstaates und um eine Aussen­poli­tik, die in der Welt einen Unter­schied macht. Und schliesslich küm­mern sich die einst strikt anti­etatis­tis­chen Bürg­er­schrecks-Grü­nen um eine grüne Schweiz mit allen Eigen­tums und Rechts­garantien.

 

Und die Weisheit zum Artikel:

»Autoverkäufer verkaufen Autos, Ver­sicherungsvertreter Ver­sicherun­gen.
Und Volksvertreter?«
Stanis­law Jerzy Lec

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