Die Antwort auf die Frage, wie der Naturbursche Leonhard Ragaz zum Theologiestudium kam, ist einfach, aber für uns heute kaum mehr nachvollziehbar: Er hatte gar keine andere Wahl!
Und nun sollte ich Pfarrer werden. Das geschah, wie nun von vornherein klar ist, nicht deswegen, weil ich mich durch einen frommen Zug ausgezeichnet hätte oder selbst den Wunsch gehegt hätte, Pfarrer zu werden, sondern einfach weil ich so begabt erschien, daß man der Meinung war, ich müsse unbedingt «studieren».
Ich selbst fühlte auch zum «Studium» keine besondere Neigung; von mir aus wäre ich lieber Bauer geblieben. Aber ein gewisser Ehrgeiz von Eltern und Lehrern, wie ein gewisses Wohlwollen gegen mich, drängten zum Studieren. Und da blieb eben kein anderer Weg als das Pfarrerwerden. Denn nur dafür gab es jene Stipendien, ohne welche das Studium von vornherein unmöglich gewesen wäre. Und nur dafür hatte man überhaupt Sinn und Verständnis.
(sämtliche Auszüge aus: Leonhard Ragaz, Mein Weg, Band 1)
Dieser Sinn und dieses Verständnis gingen dem jungen Ragaz allerdings völlig ab …
Das «geistliche» Wesen widersprach aufs stärkste meinem Empfinden. Die Pfarrerexistenz trat für mich zu stark aus dem weltlichen Leben heraus. Der Gedanke war mir völlig unerträglich, daß ich selbst in eine solche Existenz hineinkommen sollte. Ich hoffte inbrünstig, daß es, bis ich so weit wäre, Pfarrer zu sein, überhaupt keine Pfarrer mehr gäbe. Aber zu dem geplanten Pfarrerwerden entschlossen nein zu sagen, wagte ich nicht.
.. und er zog an seinem Lebensende dieses Fazit:
Viel habe ich über diese Tatsache meines inneren Widerstandes gegen das Pfarramt nachdenken müssen. Jetzt, von der Höhe des Alters aus, durchschaue und überschaue ich klar die fundamentale Bedeutung, die sie für mein inneres und äußeres Leben gehabt hat. Sie bezeichnet den tiefsten Kampf meines Lebens: den mit Kirche, Religion und Theologie für das Reich Gottes, welches sich in der Welt darstellt. Es ist die große Tragik meines Lebens, aber auch sein oberster Sinn und schließlich meine größte Freude.
Damit der Besuch der Kantonsschule in Chur die Eltern finanziell nicht allzu stark belastete, steckte man den Jungen gleich in die dritte Gymnasialklasse. Trotzdem blieb die Geldnot eine drückende Erfahrung:
Wenn der Vater einmal das Kostgeld und die Zimmermiete nicht pünktlich bezahlen konnte, so hätte ich mich vor Scham am liebsten verborgen. Auch schon die jeweilige Anschaffung der Uniform, die wir als Kantonsschüler tragen mußten, war eine schwere Sache. Ein Paar Schlittschuhe zu kaufen, hätte ich mir nicht erlauben dürfen, während ich ums Leben gern das Eislaufen auf der «Bettlerküche» unten am Rhein mitgemacht hätte.
Die Kantonsschule blieb für ihn mit wenigen Ausnahmen eine enttäuschende Erfahrung. Die Lücken in Mathematik und in den Naturwissenschaften blieben. Umso mehr vertiefte er sich in das Studium der alten Sprachen: Latein, Griechisch, Hebräisch. Aber Ragaz blieb weiterhin meilenweit davon entfernt, in irgendeiner Form “religiös” zu werden. Er brachte es bei den Kadetten sogar zum Offizier und leitete mit Eifer militärische Operationen. Er trat der Zofingia bei, einer Studentenverbindung, in der bekanntlich Bier ein weitaus wichtigere Rolle spielte als erbauliche Literatur.
Und er hasste den Konfirmandenunterricht:
Es war für mein Selbstgefühl unerträglich, daß ich ihn zusammen mit Schülern vorwiegend aus der ersten und zweiten Klasse bekam, während ich selbst in der fünften Gymnasialklasse saß. So etwas ertragen junge Leute nicht. Der Unterricht mußte sich natürlich dem Reifestand der großen Mehrzahl der Schüler anpassen und war damit tief unter meinem geistigen Niveau.
So saß ich natürlich in der Stimmung eines verachtenden Prometheus in diesen Stunden und ihre Wirkung war völlig negativ. Und so hätte ich ehrlicherweise, als ich vor dem Konfirmationsaltar stand, auf die Aufforderung zum Konfirmationsgelübde mit einem Nein antworten müssen. Aber dazu fand ich wieder, aus Rücksicht auf meine Eltern, nicht den Mut, wie ich auch nicht den Mut gefunden hatte, eine Aussprache mit dem Konfirmator zu suchen. Dieses zurückgehaltene Nein hat aber in meiner Seele seine Wirkung getan.
Trotzdem war die Aussicht, nach bestandener Matura ein Theologiestudium beginnen zu müssen, nicht mehr nur negativ:
Zwei Momente traten ein, welche meine Einstellung positiv beeinflußten. Da war einmal das Hebräische, das ich mit Rücksicht auf das Theologiestudium ein wenig erlernen mußte. Und da ist nun merkwürdig, wie stark das auf mich wirkte. Ich kann mir das nur durch den Umstand erklären, daß es meine erste direkte Berührung mit der Bibel war. Man denke: die erste direkte Berührung mit der Bibel!
Das andere Moment aber, das meine geistige Haltung etwas veränderte, war eine pantheistische Stimmung. Ich weiß nicht mehr, woher sie gekommen ist. Es scheint mir, sie sei spontan aus mir selbst hervorgebrochen. Lebhaft erinnere ich mich daran, wie ich nach einer im Kreise der Zofingia im Schloß von Haldenstein durchschwärmten Nacht am Sonntag vormittag droben in den Ruinen der Burg Lichtenstein, über der gewaltigen Felswand mit dem Blick auf den Rhein an ihrem Fuße, das weite Tal und die Berge darüber, ein pantheistisches Gedicht verfaßt habe.
Die nächste Station von Leonhard Ragaz: Beginn des Theologiestudiums an der Universität Basel. Und seine erste Entdeckung: Baruch de Spinoza, mit seiner Maxime “Gott ist Natur” der Pantheist par excellence …
Dazu mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 19. November.
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