Da geschah die große Wendung: der Aufbruch des Glaubens an das Reich Gottes als Kern und Stern der Bibel und der Sache Christi. Auch diese Wendung war ein Wunder — es war ein Aufbrechen der mächtigen Gottesquelle mitten in der Wüste. Es fehlt mir jede rationelle Erklärung dafür.
Denn es muß hier mit aller Energie festgestellt werden: Ich habe diesen Glauben an das Reich nicht von anderen übernommen, weder aus Büchern noch von Personen, nicht einmal unmittelbar aus der Bibel, er hat mir vielmehr erst die Bibel erschlossen. Er ist mir, als ureigenstes Erleben, unmittelbar von Gott gekommen. Ich habe ihn auch nicht, wie die Meinung ist, von Blumhardt übernommen, von ihm wußte ich damals so gut wie nichts.
Es ist das große Erlebnis meines Daseins. Es hat ihm immer mehr die Richtung gegeben, hat mein Schicksal bestimmt. Und es ist die große Freude, das überschwängliche Glück meines Lebens, sein nie auf hörender Frühling geworden.
Eindrückliche Worte! Doch was ist davon zu halten?
Dass es tiefe spirituelle Erfahrungen gibt, die auf keine Auslöser “von aussen” zurückzuführen sind, ist eine Tatsache. Der birsfälder.li-Schreiberling erinnert sich noch gut an den Eindruck, den ihm vor Jahrzehnten das Buch “Cosmic Consciousness” von Richard M. Bucke machte, in dem dieser Dutzende von ähnlichen Erfahrungen sammelte und schilderte.
Auch ist die Geschichte der christlichen Mystik voll von Schilderungen direkter Gotteserfahrungen, angefangen von Hugo de Balma, Meister Eckhart, Seuse, Tauler, Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Niklaus von Flüe, Jakob Böhme -, um nur ein paar Beispiele einer langen Liste zu nennen. Und jede dieser Erfahrungen hatte ihre “eigene Farbe”, ihre eigene Qualität.
So auch bei Leonhard Ragaz. Sie war so tiefgreifend, dass sie sein ganzes weiteres Leben prägen sollte. Aber im Gegensatz zu vielen Mystikerinnen und Mystikern, die sich aus der Welt zurückzogen, führte sie ihn mitten hinein in den Kampf um ein Reich Gottes, in dem soziale Gerechtigkeit ein grundegender Pfeiler war.
Ein weiteres Indiz für die Echtheit seiner Erfahrung ist die Tatsache, dass sie sich über die kommenden Jahre hinweg immer weiter vertiefte:
Allerdings hat dieses Erlebnis erst nach und nach seine ganze Fülle und Kraft gewonnen. Es war sich seiner Bedeutung noch nicht voll bewußt. Es war bloß eine Quelle, es war noch kein Strom. Die Botschaft vom Reiche war noch ferne von dem ganzen Reichtum, den sie dann gewonnen hat, und auf den sie ausschaut wie auf ein unendliches Meer von stets neuer Offenbarung. Sie entwickelte ihren Sinn vom Zentrum her nur nach und nach und prägte nur nach und nach, und leider nie völlig, mein Tun und Lassen als Pfarrer, Professor, Politiker und Mensch. Sie steht noch immer als neu, als Überraschung und Wunder, vor mir.
So schreibt er in seinen letzten Lebensjahren.
Interessant sein Hinweis auf Blumhardt. Der württembergische Theologe Christoph Blumhardt sollte im späteren Leben von Ragaz eine höchst wichtige Rolle spielen, war ihm aber damals in Basel noch nicht näher bekannt.
Eine direkte Folge seiner Erfahrung in Basel war, dass er zur “Religion” eine immer distanziertere und kritischere Einstellung einnahm, ja sie sogar als Gegensatz zum “Reich Gottes” wahrnahm:
Wenn mir Basel auf diese Weise das Reich Gottes vermittelte, so hat es mich auch tief in seinen Gegensatz hineingestellt, in die Religion. Denn hier erst lernte ich so recht jene Frömmigkeit im problematischen Sinne des Wortes kennen, welche ein so zentrales Element des Christentums bildet. Diese Frömmigkeit war hier seit etwa einem Jahrhundert eine herrschende Tradition. Sie war mit dem politischen, sozialen und kulturellen Konservativismus verbunden, der das eigentliche baslerische Wesen so stark charakterisiert. Daß es in dieser Form vom Sauerteig der Pharisäer und Schriftgelehrten durchtränkt war, ergab sich von selbst. Es war aber auch mit viel Ernst und Tiefe verbunden.
Ich habe mich von seiner Seite vieler Sympathie erfreut, habe keinen Konflikt mit ihm erfahren und keinen provoziert, habe ihm gegenüber viel Anlaß zu dauernder Dankbarkeit gehabt. Aber ein gewisses Etwas darin, ein gewisser Gegensatz zu Jesus, hat mich schon damals wie mit Stacheln berührt. Wenn ich zur Predigt in die Elisabethenkirche ging und mir die Besucher des Münstergottesdienstes meines erlauchten Kollegen von Salis in Scharen entgegenströmten, die Männer alle in Gehrock und Zylinder, alle mit kalt abweisender Gebärde, so lehnte sich etwas in mir aufs heftigste auf. Und diese Auflehnung hat sich dann in meinem Kampf für Gott und sein Reich, für Jesus und seine Art, gegen Religion und Christentum, Kirche, Theologie und Frömmigkeit ausgewachsen.
Und nicht zuletzt führte ihn das Basler Erlebnis in eine lebenslange Auseinandersetzung mit der Gestalt Jesu: für Jesus und seine Art, gegen Religion und Christentum, Kirche, Theologie und Frömmigkeit …
Darüber mehr in der nächsten Folge am kommenden Samstag, den 4. Februar!
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