Die Dik­tatur des Pro­le­tari­ats als Über­gangsphase zur klassen­losen Gesellschaft, zu ein­er brüder­lich-schwest­er­lichen Gemein­schaft, war in der The­o­rie von Marx und Engels ein unumgänglich­er rev­o­lu­tionär­er Schritt. Das war auch für Fritz Brup­bach­er evi­dent. Es galt ganz ein­fach, der ihm so ver­has­sten Bour­geoisie die poli­tis­che Macht zu entreis­sen, um eine neue sol­i­darische Gesellschaft aufzubauen:
Wenn man das unter Dik­tatur ver­ste­ht, so war ich für die Dik­tatur, seit­dem ich Sozial­ist war. Darum war mir auch die pro­le­tarische Dik­tatur in Ruß­land selbstverständlich.

Aber dann fol­gte gle­ich das grosse Caveat:
Etwas anderes ist es mit der Dik­tatur ein­er Partei über das Pro­le­tari­at. Da bin ich nicht bolschewis­tisch und bin es nie gewe­sen. Aber diese Frage war 1919 nicht wichtig. Sie war für uns West­ler damals in der rus­sis­chen Frage nicht aktuell. Ob sie es für die rus­sis­chen Anar­chis­ten und Syn­dikalis­ten war, wußten wir nicht. Wed­er von der Mach­nobe­we­gung noch von andern anar­chis­tis­chen Strö­mungen in Ruß­land wußten wir etwas Wesentlich­es. Nie­mand ori­en­tierte uns über sie. (Die Mach­nobe­we­gung war eine anar­chis­tis­che Bewe­gung in der Ukraine, die bis 1922 von den Bolschewi­ki unter der Leitung Leo Trotzkis bru­tal zer­schla­gen wurde).

Der unbe­d­ingte Wille, sel­ber zu denken und sich nicht als Partei-Appa­ratschik miss­brauchen zu lassen, liessen ihn schon früh die Gefahren der bolschewis­tis­chen Allein­herrschaft erkennen:
Daß die Masse sel­ber die Dik­tatur über sich wolle, darüber war ich nie im Zweifel. Aber ich wußte auch, daß ich trotz alle­dem — ob mit oder ohne Erfolg — die Dik­tatur der Parteispitzen ver­hin­dern wollte. Für mich war es keine Frage, daß man sich zusam­men tun müsse gegen diese Dik­tatur der Partei­bonzen, jed­er, auch der bolschewis­tis­chen Partei. Ich war für Garantien gegen die All­ge­walt der Dik­tatur der Parteispitzen. Das war unpro­le­tarisch — aber ich war kein Pro­let, son­dern ein Wesen, dem die ökonomis­chen Ver­hält­nisse ges­tat­teten, ein dif­feren­ziertes Indi­vidu­um zu sein. Ich wollte und kon­nte sel­ber denken. Wollte dazu auch die Masse anhal­ten. Darum war ich für die Grün­dung klein­er bewußter Grup­pen von Anar­chosozial­is­ten, die mit den Bolschewis­ten zusam­me­nar­beit­en soll­ten gegen die Bour­geoisie, und die bewußt dabei im Auge haben soll­ten, inner­halb der Bewe­gung und des neuen Kollek­tivs möglichst viel Frei­heit für das Indi­vidu­um zu erobern. Ich war nicht für die for­male Grün­dung solch­er Grup­pen, aber für kam­er­ad­schaftlich­es Kon­tak­t­nehmen von Gesin­nungsgenossen mit anar­chis­tis­ch­er Ader.

1919 organ­isierte er deshalb mit ein paar Gle­ich­gesin­nten Vorträge vor Arbeit­ern über die ver­schiede­nen Spielarten des Sozial­is­mus, von Fouri­er, Proud­hon, Kropotkin bis zum Syn­dikalis­mus und Bolschewis­mus. Die Erfahrung dabei war zutief­st ernüchternd:
Die Ref­er­enten sucht­en durch die Darstel­lung des Frei­heitlichen die Frei­heits­bedürfnisse der Zuhör­er zu erweck­en. Das scheint aber nicht sehr gelun­gen zu sein. Wir bracht­en vielmehr all die Leute gegen uns auf, die der Frei­heit auswe­ichen und sich beherrschen lassen woll­ten, und ander­er­seits alle die, welche durch die Dik­tatur Dik­ta­toren zu wer­den hofften. …

Es war die Zeit, wo sog­ar die paar Anar­chis­ten, die der Krieg noch übrigge­lassen, sich dem total­en Bolschewis­mus zuwandten. Man merk­te sehr gut, daß das meiste, was unter dem Titel Anar­chis­mus gegan­gen, ein­fach rev­o­lu­tionär­er Wille war, und als im Bolschewis­mus eine Lehre auf­tauchte, die das rev­o­lu­tionäre Ele­ment enthielt, das in der Sozialdemokratie nicht enthal­ten war, so wur­den die schein­baren Anar­chis­ten und rev­o­lu­tionären Syn­dikalis­ten ein­fach und mit Leib und Seele Bolschewisten. …

Noch bis etwa Mitte 1919 war die Stim­mung weit­er Schicht­en der Arbeit­er­schaft chil­iastisch. Man glaubte immer noch, der Him­mel komme jet­zt auf die Erde herunter, und es lohne sich nicht, etwas Neues anz­u­fan­gen. Vor allem die «aktive» Minorität in der Arbeit­er­be­we­gung träumte mehr vom Hän­gen der Bürg­er und von Volk­skom­mis­sari­at­en und deren Verteilung, als von Betrieb­sorgan­i­sa­tio­nen und zäher Kleinarbeit.

Im März 1921 wurde die Kom­mu­nis­tis­che Partei der Schweiz gegrün­det. Als Brup­bach­er eine Anfrage erhielt, ob er in die Redak­tion­skom­mis­sion des “Kämpfer”, des neuen kom­mu­nis­tis­chen Presse­or­gans, ein­treten wolle, sagte er zu.

Wie ist das mit sein­er oben geschilderten höchst kri­tis­chen Ein­stel­lung zu vereinbaren!?

Zwei Gründe scheinen dafür ver­ant­wortlich zu sein:
Im Juli 2920 starb die junge Hel­mi Körw, mit der seit 1915 zusam­men­lebte, an ihrer Lun­genkrankheit und liess ihn seel­isch in ein tiefes Loch fallen:
Wir hat­ten sehr aneinan­der gehangen, waren miteinan­der verwach­sen gewe­sen. Sie war mein intim­ster Fre­und gewor­den. Und nun war sie auf ein­mal nicht mehr da. Das heisst, in der Welt war sie nicht mehr da. Aber der Tod ver­mochte sie vorder­hand nicht in meinem Kopfe auszulöschen. Und so war sie nicht da und doch da. Das war ein furcht­bar schmer­zlich­er Zus­tand, eine schwere Krankheit.
… Hil­flosigkeit und Ziel­losigkeit ziehen in den Men­schen ein, der von einem Fre­unde so ver­lassen wurde. Man wird inter­es­se­los, und ich hat­te auch das Gefühl, daß mir ein großes Stück Ver­stand abhan­den gekom­men sei. Die gesunde men­schliche Natur ver­windet diesen Zus­tand nach und nach, und es verbleibt dann nur noch die schöne Erin­nerung an den Men­schen. Bis aber dies der Fall ist, ist man krank und muß sich jeden Augen­blick beweisen, daß es einen Sinn habe, zu essen und zu existieren.

In dieser schwieri­gen Lebenssi­t­u­a­tion stand er vor der Wahl, sein restlich­es Leben als Pri­vat­mann zu ver­brin­gen oder sich doch wieder auf das poli­tis­che Schachbrett zu begeben. Die Sozialdemokratie war für ihn kein The­ma mehr. Wie also weiter?
Vor­läu­fig inter­essierte mich mehr die Frage nach dem Ziel des men­schlichen Lebens, als die Frage nach der Poli­tik und den kollek­tiv­en Mit­teln, dieses mir nicht recht klare Ziel zu ver­wirk­lichen. Ich möchte sagen, Fontenelle lag mir näher als Lenin. Auch als ich mich schon etwas erholt hat­te und mich wieder für die dama­li­gen Prob­leme zu inter­essieren anf­ing — man war an der Grün­dung der Kom­mu­nis­tis­chen Partei in Wes­teu­ropa und auch in unserem Negerdorf Zürich —, da zögerte ich, und es schien mir eine schwere Last und nicht ein Vergnü­gen zu sein, wieder zu poli­tisieren, um so mehr, als ich die Vorstel­lung hat­te, ich müßte doch irgend­wie lei­t­end ein­greifen, und das würde mir wieder alle Zeit wegnehmen.

Die Arbeit in der Zeitungsredak­tion des “Kämpfer” war für ihn ein sin­nvoller Kom­pro­miss zwis­chen poli­tis­chem Engage­ment und dem Ver­fol­gen sein­er pri­vat­en Inter­essen. Und sie ermöglichte ihm das sel­tene Priv­i­leg, im Novem­ber 1921 sel­ber einen Augen­schein in der von einem bru­tal­en Bürg­erkrieg gebeutel­ten jun­gen Sow­je­tu­nion zu nehmen.

Dazu mehr in der näch­sten Folge am Sam­stag, den 20. August.

An anderen Serien interessiert?
Wil­helm Tell / Ignaz Trox­ler / Hein­er Koech­lin / Simone Weil / Gus­tav Meyrink / Nar­rengeschicht­en / Bede Grif­fiths / Graf Cagliostro /Sali­na Rau­ri­ca / Die Welt­woche und Don­ald Trump / Die Welt­woche und der Kli­mawan­del / Die Welt­woche und der liebe Gott /Lebendi­ge Birs / Aus mein­er Fotoküche / Die Schweiz in Europa /Die Reich­sidee /Voge­sen Aus mein­er Bücherk­iste / Ralph Wal­do Emer­son / Fritz Brup­bach­er  / A Basic Call to Consciousness

 

Die Reichsidee 49
Wochenrückblick

Deine Meinung

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.