Erich Fromm sah als als mögliche Widerstandskraft gegen die zunehmende Entfremdung und Entseelung der westlichen Industriegesellschaft den Humanismus in verschiedenster Ausprägung. Der humanistische Protest
… kam von zwei verschiedenen Seiten: von politisch konservativen Romantikern und von marxistischen und anderen Sozialisten (und einigen Anarchisten). Rechte und Linke waren sich in ihrer Kritik am industriellen System und dem Schaden, den es dem Menschen zufügt, einig. Katholische Denker wie Franz von Baader und konservative Politiker wie Benjamin Disraeli formulierten das Problem oft mit den gleichen Worten wie Marx.
Die beiden Lager unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, in der verhindert werden sollte, dass menschliche Wesen in Dinge verwandelt werden. Die Romantiker auf der Rechten meinten, der einzige Ausweg bestehe darin, den ungehemmten „Fortschritt“ des industriellen Systems aufzuhalten und zu früheren Formen der gesellschaftlichen Ordnung, wenn auch mit bestimmten Modifikationen, zurückzukehren.
Der Protest von links kann als radikaler Humanismus bezeichnet werden, obwohl er manchmal in theistischen, manchmal in nichttheistischen Begriffen geäußert wurde. Die Sozialisten meinten, dass die ökonomische Entwicklung nicht aufzuhalten sei, dass man nicht zu vergangenen Formen gesellschaftlicher Ordnung zurückkehren könne und dass die Rettung nur darin bestehen könne, vorwärts zu gehen und eine neue Gesellschaft aufzubauen, in der die Menschen von Entfremdung, von Versklavung durch die Maschine und dem Schicksal der Enthumanisierung befreit sind.
Inzwischen ist die wirtschaftliche — auch kulturelle — Globalisierung weiter fortgeschritten, als es sich Fromm anfangs der 70er-Jahre wohl träumen liess. Was heisst heute “vorwärts zu gehen und eine neue Gesellschaft aufzubauen”?
Einen Hinweis darauf gibt er uns mit einem Zitat des grossen jüdischen Denkers Maimonides zum Messianischen Zeitalter:
Die Weisen und die Propheten begehrten nicht die Zeit des Gesalbten, damit sie aller Welt sich bemächtigen, nicht, damit sie den Heiden obwalten, nicht, dass die Völker sie erheben, nicht um essen, trinken und sich freuen zu können, sondern damit sie frei werden für die Thora und ihre Weisheit und keiner sie treibt und stört, damit sie gewürdigt werden des Lebens der kommenden Welt (…)
oder in Fromms eigenen Worten:
Dieser Schilderung zufolge besteht das Ziel der Geschichte darin, es dem Menschen zu ermöglichen, sich ganz dem Studium der Weisheit und der Erkenntnis Gottes hinzugeben, nicht der Macht oder dem Luxus.
Anders gesagt: Es ist ein neuer grundlegender Impuls nötig: weg vom blinden materialistischen Konsumdenkens des “Immer mehr” hin (oder zurück) zu den berühmten vier Grundfragen von Immanuel Kant:
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Um sich diesen Fragen zu stellen, ist an erster Stelle von Nöten: Innehalten. Wenn wir diesen Schritt zum Innehalten nicht bewusst tun, werden wir angesichts der sich zusammenballenden Konflikte auf verschiedensten Ebenen wohl früher als später dazu gezwungen.
Fromm fasst die Forderungen der Humanisten verschiedenster Couleur in sechs Punkten zusammen:
● dass die Produktion den wahren Bedürfnissen des Menschen und nicht den Erfordernissen der Wirtschaft zu dienen habe;
● dass ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur hergestellt werden müsse, das auf Kooperation und nicht auf Ausbeutung beruht;
● dass der wechselseitige Antagonismus durch Solidarität ersetzt werden muss;
● dass das oberste Ziel aller gesellschaftlichen Arrangements das menschliche Wohl-Sein und die Verhinderung menschlichen Leids sein müsse;
● dass nicht maximaler Konsum, sondern vernünftiger Konsum erstrebenswert sei, der das menschliche Wohl fördert;
● dass der Einzelne zu aktiver Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben motiviert werden solle.
Fortsetzung am kommenden Freitag, den 29. November
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