Die nach­fol­gen­den weit­eren Aus­führun­gen Fromms zum Mar­ket­ingcharak­ter, die 1976 veröf­fentlicht wur­den, — also kurz vor der Ein­führung des Home Com­put­ers und 13 Jahre vor der Erfind­ung des World Wide Web — sind angesichts der Tat­sache, dass ein poli­tis­ch­er “Schlangen­fänger” in den USA sein Come­back schaffte, heute vielle­icht noch rel­e­van­ter als damals:
Da der Mar­ket­ing-Charak­ter wed­er zu sich selb­st noch zu anderen eine tiefe Bindung hat, geht ihm nichts wirk­lich nahe, nicht weil er so ego­is­tisch ist, son­dern weil seine Beziehung zu anderen und zu sich selb­st so dünn ist. Das mag auch erk­lären, warum sich diese Men­schen keine Sor­gen über die Gefahren nuk­lear­er und ökol­o­gis­ch­er Katas­tro­phen machen, obwohl sie alle Fak­ten ken­nen, die eine solche Gefahr ankündi­gen. Dass sie keine Angst um sich selb­st zu haben scheinen, kön­nte man durch die Annahme erk­lären, dass sie sehr mutig und selb­st­los seien; aber ihre Gle­ichgültigkeit gegenüber dem Schick­sal ihrer Kinder und Enkel schließt eine solche Erk­lärung aus. Ihre Leicht­fer­tigkeit in allen diesen Bere­ichen ist eine Folge des Ver­lusts an emo­tionalen Bindun­gen, selb­st jenen gegenüber, die ihnen am „näch­sten“ ste­hen. In Wirk­lichkeit ste­ht dem Mar­ket­ing-Charak­ter nie­mand nahe, nicht ein­mal er selb­st. (…)

Auf­grund sein­er all­ge­meinen Beziehung­sun­fähigkeit ist er auch Din­gen gegenüber gle­ichgültig. Was für ihn zählt, ist vielle­icht das Pres­tige oder der Kom­fort, den bes­timmte Dinge gewähren, aber die Dinge als solche haben keine Sub­stanz. Sie sind total aus­tauschbar, eben­so wie Fre­unde und Liebe­spart­ner, die genau­so erset­zbar sind, da keine tief­er­en Bindun­gen an sie beste­hen.

Das Ziel des Mar­ket­ing-Charak­ters, opti­males Funk­tion­ieren unter den jew­eili­gen Umstän­den, bewirkt, dass er auf die Welt vor­wiegend rein ver­standesmäßig (cere­bral) reagiert. Ver­nun­ft im Sinne von Ver­ste­hen ist eine Gabe, die dem Homo sapi­ens vor­be­hal­ten ist; über manip­u­la­tive Intel­li­genz als Instru­ment zur Erre­ichung konkreter Ziele ver­fü­gen sowohl Tiere als auch Men­schen. Manip­u­la­tive Intel­li­genz ohne Kon­trolle durch die Ver­nun­ft ist gefährlich, da die Men­schen dadurch auf Bah­nen ger­at­en kön­nen, die vom Stand­punkt der Ver­nun­ft selb­stzer­störerisch sind. Je scharf­sin­niger die von der Ver­nun­ft nicht kon­trol­lierte manip­u­la­tive Intel­li­genz ist, desto gefährlich­er ist sie.

Diese Gegenüber­stel­lung von Ver­nun­ft und manip­u­la­tive Intel­li­genz durch Fromm ist wichtig und ein­leuch­t­end. Manip­u­la­tive Intel­li­genz organ­isierte den Holo­caust, führt effizient Kriege, opti­miert die Aus­beu­tung der Natur, entwick­elt immer raf­finiert­ere Pro­pa­gan­da und Wer­bung. Und mit KI ste­hen ihr neuerd­ings mächtige Werkzeuge zur Ver­fü­gung. Der sprin­gende Punkt und die grosse Gefahr:
Die Herrschaft des rein ver­standesmäßi­gen, manip­u­la­tiv­en Denkens entwick­elt sich par­al­lel zu einem Schwund des Gefühlslebens. Da es nicht gepflegt und gebraucht wird, son­dern das opti­male Funk­tion­ieren eher behin­dert, ist das Gefühlsleben verküm­mert bzw. auf der Entwick­lungsstufe des Kindes ste­hen geblieben. Die Folge ist, dass Mar­ket­ing-Charak­tere in Gefühls­din­gen merk­würdig naiv sind. Oft fühlen sie sich von „emo­tionalen Men­schen“ ange­zo­gen, aber auf Grund ihrer Naiv­ität kön­nen sie nicht unter­schei­den, ob diese echt sind oder schwindeln. Das erk­lärt vielle­icht, warum im geistig-seel­is­chen und religiösen Bere­ich so viele Schwindler Erfolg haben; es mag auch erk­lären, warum Poli­tik­er, die starke Gefüh­le zum Aus­druck brin­gen, den Mar­ket­ing-Charak­ter stark beein­druck­en – und warum dieser nicht zwis­chen einem echt religiösen Men­schen und einem Pub­lic-Rela­tions-Pro­dukt unter­schei­den kann, das religiöse Gefüh­le nur vortäuscht.

Es gibt heute wohl keinen besseren Anschau­ung­sun­ter­richt für diese Erken­nt­nis Fromms als die kür­zlich erfol­gte Präsi­dentschafts-Wahl in den USA. Wie wäre es son­st zu erk­lären, dass Aber­mil­lio­nen Amerikaner­in­nen und Amerikan­er glauben, dass Trump sie in eine glo­r­re­iche Zukun­ft führen wird? Wie ist es möglich, dass sie die “Fake”-Natur dieses Ego­ma­nen mit seinen Manip­u­la­tio­nen nicht durch­schauen?

Schliesslich kommt Fromm erneut auf die Tat­sache zu sprechen, dass das,  was sich heute als Chris­ten­tum aus­gibt, zu einem guten Teil eine Mogel­pack­ung ist:
Die „kyber­netis­che Reli­gion“ des Mar­ket­ing-Charak­ters entspricht dessen gesamter Charak­ter­struk­tur. Hin­ter ein­er Fas­sade von Agnos­tizis­mus oder Chris­ten­tum ver­birgt sich eine zutief­st hei­d­nis­che Reli­gion, wenn die Betr­e­f­fend­en sie auch nicht als solche erken­nen. Diese hei­d­nis­che Reli­gion ist schw­er zu beschreiben, da wir auf ihre Exis­tenz nur auf Grund von Hand­lun­gen bzw. Unter­las­sun­gen schließen kön­nen, nicht auf Grund bewusster Gedanken über Reli­gion oder kirch­lich­er Dog­men. Am auf­fal­l­end­sten ist auf den ersten Blick, dass sich der Men­sch selb­st zum Gott gemacht hat, da er inzwis­chen die tech­nis­chen Fähigkeit­en zu ein­er „zweit­en Erschaf­fung“ der Welt besitzt, die an die Stelle der ersten Schöp­fung des Gottes der tra­di­tionellen Reli­gion getreten ist. Man kann es auch so for­mulieren: Wir haben die Mas­chine zur Got­theit erhoben und wer­den selb­st Gott gle­ich, indem wir sie bedi­enen. Welche For­mulierung wir wählen, ist nicht wichtig; entschei­dend ist, dass sich der Men­sch im Augen­blick sein­er größten Ohn­macht ein­bildet, dank sein­er wis­senschaftlichen und tech­nis­chen Fortschritte allmächtig zu sein.

Fort­set­zung am kom­menden Fre­itag, den 22. Novem­ber

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Aldous Huxley - Wahrheitssucher 55

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