Was hat es also mit dem Fromm’schen Begriff des Mar­ket­ing-Charak­ters auf sich?
Ich habe die Beze­ich­nung „Mar­ket­ing-Charak­ter“ gewählt, weil der Einzelne sich selb­st als Ware und den eige­nen Wert nicht als „Gebrauch­swert“, son­dern als „Tauschw­ert“ erlebt. Der Men­sch wird zur Ware auf dem „Per­sön­lichkeits­markt“. Das Bew­er­tung­sprinzip ist das­selbe wie auf dem Waren­markt, mit dem einzi­gen Unter­schied, dass hier „Per­sön­lichkeit“ und dort Waren feil­ge­boten wer­den. Entschei­dend ist in bei­den Fällen der Tauschw­ert, für den der „Gebrauch­swert“ eine notwendi­ge, aber keine aus­re­ichende Voraus­set­zung ist.

Deshalb geht es laut Fromm heute vor allem darum, an ein­er möglichst attrak­tiv­en und überzeu­gen­den “Ver­pack­ung” dieser Ware — des -“Per­sön­lichkeit­styps” — zu arbeit­en:
Der bevorzugte Per­sön­lichkeit­styp hängt bis zu einem bes­timmten Grad von dem Beruf­szweig ab, in dem ein Men­sch arbeit­en möchte. Der Börsen­mak­ler, der Verkäufer, die Sekretärin, der Bahn­beamte, der Uni­ver­sität­spro­fes­sor und der Hotel­man­ag­er – sie alle müssen ein­er je ver­schiede­nen Art von Per­sön­lichkeit entsprechen, die ungeachtet aller Unter­schiede eine Bedin­gung erfüllen muss: Sie muss gefragt sein. …
Um Erfolg zu haben, muss man imstande sein, in der Konkur­renz mit vie­len anderen seine Per­sön­lichkeit vorteil­haft präsen­tieren zu kön­nen. Wenn es zum Broter­werb genü­gen würde, sich auf sein Wis­sen und Kön­nen zu ver­lassen, dann stünde das eigene Selb­st­wert­ge­fühl im Ver­hält­nis zu den jew­eili­gen Fähigkeit­en, das heißt zum Gebrauch­swert eines Men­schen. Aber da der Erfolg weit­ge­hend davon abhängt, wie gut man seine Per­sön­lichkeit verkauft, erlebt man sich als Ware oder richtiger: gle­ichzeit­ig als Verkäufer und zu verkaufende Ware. Der Men­sch küm­mert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, son­dern um seine Verkäu­flichkeit. (…)

Men­schen mit ein­er Mar­ket­ing-Charak­ter­struk­tur haben kein Ziel, außer ständig in Bewe­gung zu sein und alles mit größt­möglich­er Effizienz zu tun. Fragt man sie, warum alles so rasch und effizient erledigt wer­den muss, erhält man keine echte Antwort, nur Ratio­nal­isierun­gen wie: „Um mehr Arbeit­splätze zu schaf­fen“, oder: „Damit die Fir­ma weit­er expandiert“. Philosophis­chen oder religiösen Fra­gen, etwa wozu man lebt und warum man in die eine und nicht in die andere Rich­tung geht, brin­gen sie (zumin­d­est bewusst) wenig Inter­esse ent­ge­gen. Sie haben ihr großes, sich ständig wan­del­ndes Ich, aber kein­er von ihnen hat ein Selb­st, einen Kern, ein Iden­tität­ser­leben. Die „Iden­tität­skrise“ der mod­er­nen Gesellschaft ist darauf zurück­zuführen, dass ihre Mit­glieder zu selb­st-losen Werkzeu­gen gewor­den sind, deren Iden­tität auf ihrer Zuge­hörigkeit zu Großkonz­er­nen (oder anderen aufge­bläht­en Bürokra­tien) beruht. Wo kein echt­es Selb­st existiert, kann es auch keine Iden­tität geben.

Da alles Streben auf die Erar­beitung ein­er möglichst attrak­tiv­en “Ver­pack­ung” aus­gerichtet ist, wird der Kon­takt zu gen­uinen inneren Gefühlen immer schwäch­er. Die Folge:
Der Mar­ket­ing-Charak­ter liebt nicht und has­st nicht. Diese „alt­modis­chen“ Gefüh­le passen nicht zu ein­er Charak­ter­struk­tur, die fast auss­chließlich auf der rein ver­standesmäßi­gen Ebene funk­tion­iert und sowohl pos­i­tive als auch neg­a­tive Emo­tio­nen mei­det, da diese mit dem Haup­tan­liegen des Mar­ket­ing-Charak­ters kol­li­dieren: dem Verkaufen und Tauschen oder genauer, dem Funk­tion­ieren nach der Logik der „Mega­m­as­chine“ (L. Mum­ford, 1967), deren Bestandteil sie sind, ohne Fra­gen zu stellen, außer, wie gut sie funk­tion­ieren, was an ihrem Auf­stieg in der bürokratis­chen Hier­ar­chie abzule­sen ist.

Zum Begriff der “Mega­m­as­chine”:
Unter Mega­m­as­chine ver­ste­ht Mum­ford das ganze Sys­tem mod­ern­er west­lich­er Wirtschafts- und Lebensweise, das für ihn einen beängsti­gen­den total­itären Anspruch vor­bringt und zu Kriegen führt. Die Hauptvertreter der Mega­m­as­chine zur dama­li­gen Zeit sind der nor­damerikanis­che und der sow­jetis­che Impe­ri­al­is­mus. Sie fußt auf dem mech­a­nis­tis­chen Welt­bild, das sich im Lauf der Renais­sance durch­set­zt: Alle Dinge sind beherrschbar, weil und insofern sie quan­tifizier­bar, näm­lich mess­bar, vorher­sag­bar, wieder­hol­bar sind. Geschichte, Kul­tur, Moral und das Sub­jekt über­haupt mit seinen Äng­sten, Hoff­nun­gen, Kraftquellen müssen dabei notwendig unter die Räder kom­men, da sie nicht quan­tifizier­bar sind.

Der Kap­i­tal­is­mus mit seinem Streben nach Wach­s­tum erscheint als die gefun­dene Wirtschafts­form für eine Mega­m­as­chine. Die Frage, welch­es Glück oder Unglück mit diesem Streben ein­herge­he – also die Frage nach der Qual­ität – klam­mert sie rig­oros aus. Mum­ford arbeit­et den zer­störerischen Charak­ter des west­lichen „Fortschritts“ als einen her­aus, der sich unaufhalt­sam beschle­u­nigt: „Nur die destruk­tiv­en Prozesse sind schnell, nur die Entropie kommt ohne Mühe.“ 

Dem hält er ein organ­is­ches Welt­bild ent­ge­gen, mit dem das vielbeschworene „Wach­s­tum“ der west­lichen Mark­twirtschaften nicht das Ger­ing­ste zu tun hat. Zu ein­er Zeit, da es noch weit­ge­hend Fremd­wort ist, han­delt Mum­ford aus­führlich von Ökolo­gie. Der Schluss des Epi­logs mit dem Titel “Der Fortschritt des Lebens” stellt die Über­win­dung der Mega­m­as­chine als einen organ­is­chen Vor­gang in Aus­sicht:
…an denen von uns, die den Mythos der Mega­m­as­chine abgeschüt­telt haben, liegt es, den näch­sten Schritt zu tun: Denn die Tore des tech­nokratis­chen Gefäng­niss­es wer­den sich trotz ihrer ver­rosteten alten Angeln automa­tisch öff­nen, sobald wir uns entschließen, hin­auszuge­hen. (aus Wikipedia: Der Mythos der Mas­chine)

Fabi­an Schei­dler hat diesen Begriff im seinem Buch “Das Ende der Mega­m­as­chine. Geschichte ein­er scheit­ern­den Zivil­i­sa­tion” wieder aufgenom­men und weit­er ver­tieft.

Die Kon­se­quen­zen dieser Entwick­lung sind gravierend, wie wir in der näch­sten Folge am Fre­itag, den 15. Novem­ber sehen wer­den.

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